: Rendezvous mit Salman Rushdie
„... das Bedürfnis, die Tatsache, daß es ihn noch gibt, zu betonen ...“ ■ Von Martin Amis
Wie bereits gestern in der taz berichtet, hat Salman Rushdie, auf den seit dem 14. Februar 1989 wegen seiner „Satanischen Verse“ ein Kopfgeld von drei Millionen Dollar ausgesetzt ist, in den letzten Wochen mehrfach sein Versteck verlassen: Er signierte Bücher in einer Londoner Buchhandlung und erschien zweimal in einem Studio der BBC. Sein Versuch, „normale“ Dinge zu tun, wurde am vergangenen Wochenende von seiten Teherans jedoch mit einer Wiederholung des Mordaufrufs quittiert: An eine Rückkehr Rushdies ins gesellschaftliche Leben und an ein gewöhnliches Privatleben ist nach wie vor nicht zu denken. Rushdies Freund und Schriftstellerkollege Martin Amis versucht im folgenden, den Alltag des Dichters seit der „Fatwa“ zu beschreiben: „Ein Leben in der Falle, in der Farce.“(taz)
Salman Rushdie, der Autor eines vieldiskutierten Romans namens Die satanischen Verse, ist noch unter uns. Man verspürt das Bedürfnis, die Tatsache, daß es ihn noch gibt, betonen zu müssen. Er sitzt in der Falle, in einer Farce; er ist dazu verdammt, seine eigenen literarischen Themen — Exil, Ächtung, Getrenntsein, Neudefinierung der Persönlichkeit — durchzuspielen; er bewohnt eine Art Schattenreich; doch er ist eindrucksvoll lebendig. Die Debatte um Rushdie ist an einem toten Punkt angelangt, wo offenbar niemand mehr natürlich reden kann. In dieser Hinsicht haben die Mächte der Humorlosigkeit schon triumphiert. Rushdies Leben unterliegt einer permanenten Verzerrung. Ich erkläre daher hiermit, daß seine Menschlichkeit unbeeinträchtigt und ungebrochen ist.
Unmittelbare Begegnungen mit dem Manne blieben rar und verzwickt. Will man sich mit dem Minotaurus treffen, muß man das Labyrinth seiner Sicherheitsvorkehrungen betreten. Dennoch sind seinen Freunden diverse Einblicke und Anblicke geläufig: Rushdie macht sich um Mitternacht daran, Bob Dylans gesammte Werke vorzutragen; oder sieht sich vergangenen Sommer die Fußballweltmeisterschaft im Fernsehen an (und parodiert gnadenlos die Kommentatoren); oder fällt bei der ehrgeizigen Vorführung einer besonders ausgefallenen Twist-Version um; oder lauscht bei einer Pizza ernsthaft einer Bootleg Jimi Hendrix'. Rushdies Situation ist eine wahrhaft manichäische, doch ist er weder Gott noch Teufel: er ist nur ein Schriftsteller — ein komischer und proteischer, ein ironischer und inbrünstiger. Um dies zu bekräftigen, hat Rushdie nun einen trotzig lebensfrohen und tapferen Roman geschrieben, ein Kinderbuch für Erwachsene: Haroun and the Sea of Stories. Es gibt Zeiten, da empfindet man Rushdies Zwangslage als eine bedeutungslose Abschweifung, einen chaotischen Zufall; zu anderen Zeiten erfährt man sie als etwas fesselnd Zentrales und Exemplarisches. Rushdies Freunde denken, so meine ich, täglich an ihn. Doch seine Autorenfreunde denken, so vermute ich, alle halbe Stunde an ihn. Er ist immer noch bei uns. Und wir sind bei ihm.
„Als ich zum ersten Mal davon erfuhr, dachte ich, ich bin ein toter Mann. Einfach: Das war's dann wohl. Noch einen Tag. Oder zwei.“ Dieses Interview fand an einem unbekannten Ort statt; wie wir zusammengekommen waren, das würde Haroun einen P2C2E nennen — „A Process too Complicated to Explain —: „In solchen Momenten kommt einem der ganze Kitschkram in den Sinn. Du denkst, du erlebst nicht mit, wie deine Kinder größer werden. Du kannst nicht das arbeiten, was du willst. Komischerweise schmerzen solche Sachen mehr als die physische Vorstellung, tot zu sein. Irgendwie erfaßt man diese Realität nicht.“
An jenem Tag, dem 14.Februar 1989 — dem Tag von Khomeinis „Fatwa“, schien die Realität an sich schwer faßbar. Ich erinnere mich, daß selbst der Himmel ungewöhnlich leuchtete. Rushdie hörte zuerst davon, als ein Rundfunksender ihn anrief — um eine Reaktion von ihm zu erfragen. „Wie fühlen Sie sich, vom Ayatollah zum Tode verurteilt zu sein? Was darf ich zitieren?“ Das Zitat brachte er noch zusammen („Weiß der Himmel, was ich gesagt habe“), dann rannte er durchs Haus und zog die Vorhänge zu und ließ die Rolläden herunter. Als nächstes schlafwandelte er durch ein Interview für das Vormittagsprogramm von CBS und machte sich dann auf zu seinem letzten öffentlichen Auftritt: dem Gedenkgottesdienst für seinen guten Freund Bruce Chatwin.
Es war eine griechisch-orthodoxe Kirche, düster, staubig, große Kuppel und voll mit Autoren. Rushdie kam pünktlich mit seiner Frau, der amerikanischen Schrifstellerin Marianne Wiggins. „Ich stand unter einem Schock“, sagt er heute. Er wirkte nervös. Wir alle waren nervös. Saul Bellow nennt es „Ereigniskiztel“. „Salman“, sagte ich, als wir uns umarmten (er umarmt seine Freunde gern, nie aus Routine, immer bewußt), „wir machen uns Sorgen um dich.“ Worauf er sagte: „Ich mache mir auch Sorgen um mich.“ Die Rushdies setzten sich neben meine Frau und mich. Ich hatte die schändliche Anwandlung, diese ganzen schönen leeren Bänke am hinteren Ende der Kirche empfehlen zu wollen. Rushdie blickte immer wieder über die Schulter; Pressevertreter wurden von Gillon Aitken von seiner Agentur auf Abstand gehalten. „Salman!“ rief Paul Theroux burschikos herüber. „Nächste Woche sind wir wieder da — wegen dir!“
Entsprechend qualvoll war der Gottesdienst, qualvoll schon das ganze unverständliche Gejodel und Geflehe. Ich merkte, wie meine Gedanken alle leicht, aber beharrlich blasphemisch waren. Die Geistlichen in ihren Roben wedelten ihre rauchenden Gefäße durch die Luft wie griechische Kellner, die brennende Aschenbecher entfernen. Das, so schloß ich, war also Bruce Chatwins letzter Streich, den er seinen Freunden und Verwandten spielte: sein heterodoxer Theismus hatte sich letztlich auf eine Religion kapriziert, die keiner, den er kannte, begriff, der sich keiner nähern konnte. Wir setzten und erhoben uns, erhoben und setzten uns, wobei wir uns bemühten, das dröge Theater eines fremden Glaubens — ein System der Unsterblichkeit, und daher zwangsläufig langweilig, fremdartig, theatralisch — nicht durch Seufzer oder Gähnen zu stören. Als es vorbei war, schlichen sich Salman und Marianne an den wartenden Journalisten vorbei und wurden in dem Wagen eines Freundes weggefahren. Rushdie verbrachte dann den Tag damit, seinen Sohn Zafar (der heute elf ist) zu suchen — und vermutlich auch nach einer Form, sich von ihm zu verabschieden, während er sich darauf vorbereitete, sein neues Leben anzutreten.
Salman war in die Welt der Blockschrift verschwunden
Ich blieb noch kurz auf dem Empfang nach dem Gottesdienst. Unter normalen Umständen hätten wir die Gelegenheit ergriffen, einander mitzuteilen, wie sehr uns der betrauerte Freund beschäftigte. Doch niemand dachte an Bruce, keiner redete von ihm. Jeder dachte an Salman und redete über ihn: seine Gefährdung, sein krasses Exponiertsein. Auf dem Nachhauseweg machte ich etwa ein halbes Dutzend Dinge, die Salman Rushdie nicht mehr gestattet waren: Ich ging in eine Buchhandlung, einen Spielwarenladen, einen Imbiß; ich ging nach Hause. Unterwegs kaufte ich eine Abendzeitung. Die Schlagzeile lautete: „AYATOLLAH BEFIEHLT: RUSHDIE HINRICHTEN!“ Salman war in der Welt der Blockschrift verschwunden. Er war in die Titelseite untergetaucht.
Natürlich ist sein Fall einzigartig. Es ist eine geradezu peinliche Einzigartigkeit. Die Bedingungen der „Fatwa“ (die ihn zugleich zum Tod und zu Lebenslänglich verurteilte); die Höhe der Belohnung (dreimal so hoch wie die vermutete Summe für den Absturz von Lockerbie); die Natur des Exils, das den Schriftsteller sowohl von seinem Thema (die Gesellschaft) wie auch von seinem Ziel (nüchterne literarische Betrachtung) entfernt: Rushdie ist, mit seinen eigenen Worten, fest „an die Geschichte gekettet“. Die Einzigartigkeit ist das Maß seiner Isolation. Vielleicht ist sie auch das Maß seines Stoizismus. Weil kein anderer — gewiß kein anderer Autor — das so gut hätte überleben können.
Das sage ich ihm oft. Oft sage ich ihm, wäre die Affäre Rushdie beispielsweise die Affäre Amis, dann wäre ich inzwischen ein verheulter und ruhiggestellter Dreihundertpfünder ohne Wimpern und Nackenhaare und übersät mit blauen Flecken und Brandwunden von diversen Mißgeschicken mit der Nadel und der Crackpfeife. Er hat nur wenig angesetzt („kein körperlicher Ausgleich“) und wieder angefangen, in Maßen zu rauchen; eine Zeitlang hatte er eine Art Streßasthma. Doch Rushdie ist unverändert: der rosige Teint, das seitliche Fältchen an der Unterlippe, wenn er lächelt (was den Eindruck babyhaft-kleiner Schneidezähne vermittelt), die Augen unter so exotischen Liedern, daß er schon seit längerem eine kleinere Operation erwogen hat, damit die Lider die Iris nicht verdecken. Seine unwiderstehlich humorvolle Erscheinung ist unvermindert, unverwässert. Manchmal, wenn man ihn anruft, klingt sein „Ach, mir geht's gut“ nur fast überzeugend. Ansonsten ist er ein Wunder an Ausgeglichenheit.
Wie kommt das? Fraglos besitzt Rushdie einen Menge natürlichen Halt. Er ist vertraut mit dem Exil, dessen Entwurzelungen, dessen erstaunlichen Möglichkeiten zur Ausdehnung, wie es einen zugleich nackt und unsichtbar machen kann, wie im Traum. Salman Rushdie hatte immer etwas Olympisches an sich. Sein Glaube an die eigene Kraft allerdings ist (anders als andere Formen des Glaubens) nicht monolithisch und daher prekär. Er ist beweglich, kapriziös und komisch. Als ich ihn das erste Mal traf, es war vor sieben Jahren, erwähnte er, er habe kürzlich in Finnland in einer Weltelf von Autoren mitgespielt.
„Wirklich?“ sagte ich. „Und wie lief's?“ Ich erwartete die übliche Komödie (verstauchter Knöchel, Herzanfall, Unfähigkeit, Blamage). Doch ich bekam eine andere Art Komödie vorgesetzt, von linksaußen.
Er sagte: „Ich, ähm, ich habe sogar einen Hat-Trick gemacht.“
„Wie bitte? Wahrscheinlich hast du bloß den Fuß hingehalten. Hast sie hineingewurstelt.“
„Tor Nummer eins war ein hüfthoher Volley aus zwanzig Metern Entfernung. Beim zweiten habe ich an der Strafraumgrenze zwei Mann aussteigen lassen und den Ball mit dem linken Außenrist in den oberen Winkel gelöffelt.“
„Und das dritte Tor, Salman? Das hast du reingespitzelt. Purer Dusel.“
„Nein. Das dritte Tor war ein Kopfballtorpedo.“
Auch wenn man keine Ahnung von Fußball hat, versteht man, was gemeint ist. Das ist Rushdies Stil. Er zwingt einen immer zu der Entscheidung, ob man ihn wörtlich nehmen kann oder nicht.
Nun haben gewisse zeitgenössische Kräfte ihre Entscheidung getroffen, und sie sind füglich zu einem wörtlich zu nehmenden Urteil gekommen: ewiges Remittententum. Rushdie kann, wie ich meine, das Gewicht des Anathema aushalten wie auch die weit verbreitete Feindseligkeit: Er ist schon lange im Training. Schließlich hat er auch schon vorher den Mächtigen der Welt Gefechte geliefert: mit Scham General Zia (das Buch wurde in Pakistan natürlich verboten) und mit Mitternachtskinder Frau Ghandi (die ihm eine Verleumdungsklage angehängt hat). Doch dann kam das Intensivtraining, und es begann am 26.September 1988 mit dem Tag, als Die satanischen Verse erschienen. Verbote und Verbrennungen, Petitionen und Demonstrationen, Krawalle in Islamabad (fünf Tote), Krawalle in Kaschmir (ein Toter, 100 Verletzte). Rushdie beteuerte, diese Toten habe er „nicht auf dem Gewissen“; doch zu diesem Zeitpunkt fühlte er sich schon, wie er sagte, „absolut entsetzlich. Es war das Furchtbarste — bis zu den andern Furchtbarsten.“ Die Krawalle ereigneten sich an aufeinanderfolgenden Tagen. Am dritten Tag wurde die „Fatwa“ ausgesprochen. Da wußte Rushdie schon, daß das Buch tödliche Fragen aufgeworfen hatte. Er hatte keine Wahl; er war verpfichtet, in die Weltgeschichte einzugehen.
„Anfangs fand ich es mehr oder weniger unmöglich, abzuschalten, mich abzuwenden. Bevor der Ayatollah seinen Schritt tat, sah ich mich als Teil einer Debatte. Die Debatte ging weiter, doch nun war ich davon ausgeschlossen.“
Wieder ein traumartiger Zustand. Rushdie war Zuschauer (nicht Verteidiger, nicht einmal Zeuge) seiner eigenen Hauptverhandlung. Und er merkte, daß es ein Fulltime-Job war, mit der Entwicklung Schritt zu halten. Sein Tag begann mit den Frühstücksnachrichten um 6.30 Uhr und endete mit den Spätnachrichten um 22.45 Uhr. Zu dem Zeitpunkt umfaßte die Rushdie-Story wenigstens drei Seiten in jeder überregionalen Zeitung; und dazwischen gab es dann immer noch den 'Bradford Telegraf and Argus‘, die südafrikanische 'Weekly Mail‘, den 'Osservatore Romano‘, die 'Salzburger Kronen- Zeitung‘, 'Al Achram‘, 'Al-Noor‘, die 'Muslim Voice‘ und 'India Today‘. Wo er auch hinschaute, er sah nur lodernde Bücher und zuckende Schnurrbärte.
„Was zum Teufel habe ich in der Jasper-Carrot- Show verloren?“
Frage: „Was hat lange blonde Haare, dicke Titten und lebt in einem Iglu auf Island?“ Antwort: „Salman Rushdie!“ ... Derlei Witze, die in jedem Pub und an jeder Bushaltestelle zirkulieren, wurden Rushdie von seinen Special-Branch-Leibwächtern hinterbracht; er wurde auch zur Vorlage für Fernsehkomiker, die ihn als den Gejagten, den Gezeichneten, den Vergänglichen typisierten. Rushdie fand manche Rushdie-Witze komischer als andere. Was ihn jedoch beunruhigte, war die plötzliche Promiskuität seines Ruhms. „Ständig dachte ich: Was zum Teufel habe ich da überhaupt verloren? Was zum Teufel habe ich in einer TV-Klamotte verloren? Was zum Teufel habe ich in der Jasper Carrot Show verloren?“
In gewissem Sinn ist die „Fatwa“ selbst ein Rushdie-Witz. Das Thema der Blasphemie ist immerhin diskussionswürdig (und Rushdie will diese Diskussion fortsetzen); aber was soll man von Khomeinis Gesabbel halten, das Rushdie als literarischen Minenhund zeichnet, den das Weltjudentum losgeschickt hat, um den Islam für einen neoimperialistischen Blitzkrieg weichzuklopfen? Das ist nun wirklich komisch. Wenn du schreibst, wenn du versuchst zu belehren und zu unterhalten, dann willst du, daß die Welt aufhorcht und es zur Kenntnis nimmt. Aber nicht wörtlich. Und in den Abendnachrichten dann die blinkenden Leuchtpunkte auf der bunten Weltkarte, Bombay, Berkeley, Brüssel — Krawalle, Brände und Mord. Um was geht's? Um dich geht's. Um dein Buch geht's. Und weiter geht's mit nicht zustandegekommenen Verbindungen, nicht kapierten Ironien, grauenhaften Mißverständnissen.
Ihn genau beschreiben heißt, ihn in Gefahr bringen, dennoch läßt sich ein wenig sagen über die Art, wie er jetzt lebt. Er lebt wie ein Geheimagent; er ist Nomade und Einsiedler zugleich. „Ein durchschittlicher Tag? Ich habe keine durchschnittlichen Tage, weil immer die Möglichkeit besteht, weiterziehen zu müssen. Ich lese viel. Ich telefoniere viel — zwei, drei Stunden am Tag. Ich spiele Computererspiele. Schach. Super Mario. Ich bin ein Meister im Super Mario I und II. Ansonsten mache ich, was ich auch sonst machen würde. Um 10.30 Uhr beginne ich mit der Arbeit, ich esse nie Mittag, und um vier lege ich mich eine Stunde aufs Ohr.“ Im Grunde ist ein Schriftsteller am lebendigsten, wenn er allein ist. Dann kann er seinen Geschäften nachgehen, sich andere Leute auszudenken. Doch hinter der Einsamkeit ist normalerweise ein geselliges Gemurmel — ein Gemurmel, das Rushdie nicht mehr hört. „Das Eigenartige daran ist, abends nicht weggehen zu können. Oder auch nachmittags. Oder vormittags. Um den Kopf frei zu bekommen.“
Das neue Buch — ein phantastischer Kommentar zur Lage des Autors
Es überrascht nicht zu hören, daß ein Todesurteil einem nicht zu wunderbarer Konzentration verhilft. Haroun and the Sea of Stories ist das Ergebnis einer nie dagewesenen Anstrengung. „Die Ablenkungen kamen nicht von außen, sondern von innen. Wenn ich schreibe, versinke ich in dem Teil meiner selbst, von wo der Roman kommt. Doch vorher mußte ich mich an dem ganzen andern Zeug vorbeikämpfen: der Krise. Und wenn ich dann endlich angekommnen war, war ich erledigt.“ Haroun begann als eine Reihe Gutenachtgeschichten, die Rushdie seinem Sohn Zafar erzählte — „oder Badewannengeschichten. Er lag in der Wanne und hörte zu, oder saß in Handtücher eingewickelt da.“ Als Rushdie kurz vor der Fertigstellung der Satanischen Verse stand, nahm Zafar seinem Vater das Versprechen ab, die Erwachsenen eine Zeitlang sein zu lassen und ein Buch für Kinder zu schreiben. „Ich hätte keinen Roman für Erwachsene schreiben können. Dazu fehlte mir die Distanz, die Ruhe. Ich mußte das Versprechen Zafar gegenüber einhalten, weil es das einzige war, das ich bei ihm überhaupt einhalten konnte. Das war die Geißel, mit der ich mich immer schlug. Das gab mir die Energie, etwas so Verrücktes zu tun, nämlich eine Märchengeschichte inmitten eines Alptraums zu schreiben. Es gibt nichts Absoluteres als ein Versprechen einem Kind gegenüber. Das kann man nicht brechen.“
Das neue Buch kann und wird als ein phantastischer Kommentar zur Lage des Autors gelesen werden. Eine solche Lesart ist zweifellos naiv, doch die Reinheit des literarischen Echos ist ein weiteres Privileg, mit dessen Verlust sich Rushdie abfinden muß — vorerst. Plötzlich scheinen alle seine Bühcer seine gegenwärtige Situation vorherzusagen und zu erkunden, und Teile aus Die satanischen Verse weisen auf fast vulgäre Weise darauf hin („Deine Gotteslästerung, Salman, wird dir nicht vergeben... deine Worte Gottes Wort entgegenzusetzen!“). In jedem Fall ist Haroun ein kleiner Klassiker der leidenschaftlichen Erfindung. Der Genrewechsel verläuft schließlich ganz nahtlos: Was ist „magischer Realismus“, wenn nicht die heitere Lässigkeit einer Kinderphantasie? Dies sind also die Geschichten, die Rushdie seinem Kind erzählen wollte. Darüber hinaus jedoch erkennt man darin auch das Kind in Rushdie — seine Freude, seine Bosheit, seine Unschuld, sein begieriges Herz.
Auf die Frage, ob er einen Plan für die Zukunft habe, sagt Rushdie: „Einen Plan. Na, ,Plan‘ wäre dafür doch ein recht großes Wort.“ Sein Überleben wird, ebenso wie seine Fähigkeit zu hoffen, weiterhin eine Angelegenheit tagtäglicher Improvisation sein. Von Zeit und Zeit vernimmt man aus Teheran eine Erklärung ähnlich der folgenden: auch wenn Rushdie a) zugibt, daß er unrecht hatte, b) auf die Taschenbuchausgabe verzichtet, c) die gebundene Ausgabe zurückruft und einstampft, d) weitreichende Reparationen leistet und e) ein frommer Moslem wird, dann wird es immer noch nicht genug sein. Was wird genug sein? Der Ton der Ablehnung erinnert einen an einen liebeskranken, verletzten Teenager. Fast könnte es ein weniger gütiger und verzeihender Haroun sein. „Füllt den Ozean mit Tränen. Weint mir einen Fluß.“
Als Rushdie dann aber mit seiner Märchengeschichte angefangen hatte, fielen alle Schwierigkeiten von ihm ab. Die erste Fassung schrieb er in zweieinhalb Monnaten; die zweite schrieb er in zwei Wochen — „mit ungeheurer Geschwindigkeit. Ein Kapitel pro Tag.“ Der Durchbruch stand in keinem Zusammenhang mit irgendeiner Veränderung seiner Lage. Er hatte etwas mit dem ersten Satz zu tun, „der offenbar eine Menge Energie enthielt. Er war wie eine Stimmgabel.“ Und Rushdie zitiert ihn: „Einst gab es im Lande Alifbay eine traurige Stadt, die traurigste aller Städte, eine Stadt die so unsäglich traurig war, daß sie ihren Namen vergessen hatte.“
Doch der Leser ist schon traurig, schon bewegt und ruhelos, nämlich von der Widmung des Buches (ein Akrostichon), das auf die aufgezwungene Distanz verweist, auf das Gefühl verweigerter Heimkehr und auf eine verlorene Zeit, die kein Happy-End wiedergeben kann:
Zembla, Zenda, Xanadu:
All our dream-worlds may come true.
Fairy lands are fearsome too.
As I wander far from view
Read, and bring me home to you.
Übersetzung: Eike Schönfeld
Copyright: Martin Amis. Erstdruck: 'Vanity Fair‘, Dezember 1990. wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen