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Die EG — eine militärische „Superpower“

Europäische Friedensbewegte diskutieren neue militärische Rolle der EG in Europa und in der Dritten Welt/ Friedensforscher Senghaas befürchtet in Europa vielerorts „Libanonisierung“  ■ Aus Köln Dorothea Hahn

Noch nie war die Gelegenheit so günstig für radikale Abrüstung und Auflösung der Armeen wie heute, da die Ost-West-Konfrontation und in ihrem Gefolge jahrzehntelang gehegte und gepflegte Feindbilder verschwunden sind. Erstmals in der Geschichte könnte ein ganzer Kontinent — dazu noch der höchstgerüstete — auf seine Militärs verzichten, seine riesigen Waffenschmieden in nutzbringende Industrien verwandeln und die Verteidigungsministerien zu Koordinationsstellen für die Rüstungskonversion umwidmen. Das alte Europa könnte den Kalten Krieg hinter sich lassen wie die Hexenverbrennungen und die Sklaverei.

Rosige Perspektiven also für eine Friedensbewegung, die seit Jahren gegen Raketen und Panzer kämpft. Doch unter PazifistInnen will keine rechte Euphorie aufkommen. Im Gegenteil: Auf einer Tagung mit dem vielversprechenden Titel Europa ohne Armeen (EuroA) in Köln herrschten am Wochenende eher die skeptischen Töne vor. Zwar hatte gleich zu Anfang des dreitägigen Treffens mit rund hundert TeilnehmerInnen der Grüne Roland Vogt festgestellt: „Wir sind die Generation, die Militär und Rüstung überwinden muß.“ Doch dann folgte die ernüchternde Bestandsaufnahme der militärpolitischen Aktivitäten von nationalen Regierungen und neuerdings auch der EG. Eine „militärische Superpower wie die anderen auch“ sei da im Entstehen begriffen, meinten Teilnehmer. Dem stehen keine derzeit nennenswerten europäischen Vernetzungen der Friedensbewegung gegenüber. Die Tradition des „klassischen Pazifismus“, zugleich „Entrüstung“ zu fordern und internationale Friedensstrukturen aufzubauen, müsse jetzt wiederbelebt werden, betonte der Friedensforscher Dieter Senghaas.

Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit, bereitet die EG sich unterdessen auf die neue militärische Rolle in Europa und der Dritten Welt vor, die ihr zumindest die größeren zentraleuropäischen Mitgliedsländer zugedacht haben. Friedensforscher wie Johann Galtung und Senghaas, Vertreter der Initiativen „Schweiz ohne Armee“, „Österreich ohne Heer“ und „Bundesrepublik ohne Armee“ brachten auf der Tagung — die der „Bund für soziale Verteidigung“, ein Zusammenschluß von Gruppen aus der Friedensbewegung, organisiert hatte — zahlreiche Belege für diesen Trend. So hat Belgien bereits im Juli vorgeschlagen, eine europäische „Friedenstruppe“ zu Schlichtungszwecken nach Osteuropa zu schicken. So dürfen die Amerikaner in der Pfalz wieder Tiefflüge unter 300 Meter Höhe durchführen, und so ist Saddam Hussein — bei anderer Gelegenheit sind es „die Araber“ schlechthin — längst als neues Feindbild eingeführt. Aber auch die Angst vor der Sowjetunion lebt weiter. Galt die UdSSR früher „wegen ihrer Stärke“ als Bedrohung, soll jetzt paradoxerweise gerade ihre Schwäche die Gefahr sein. Bei einer Meinungsumfrage in mehreren Ländern sprachen sich jüngst sieben von zehn Befragten für eine europäische Streitmacht aus. „Ganz offensichtlich fühlen sich die Europäer bedroht“, so Vogt.

Die eigentliche Gefahr für Europa ist nach Ansicht des Friedensforschers Senghaas jedoch eine „Libanonisierung“ an „20 oder mehr Stellen“ des Kontinents. Dabei könnten ethnisch-nationalistische Gruppen, „die eigentlich zur Graswurzelbewegung gehören“, möglicherweise zu Bürgerkriegen führen, wenn es keine geeignete Plattform zur Konfliktlösung gibt. Die vermutlich erste „Front“ dieser Art liegt zwischen Jugoslawien, dem Kosovo und Albanien, prognostizierte Senghaas. Just diese „Libanonisierung“ gelte es als „wichtigste Aufgabe der nächsten Jahre“ zu verhindern.

Scheuklappen haben manche PazifistInnen, wenn es ganz konkret um die „Militarisierung der EG“ geht. So fanden am Wochenende zwar die nationalen Initiativen zur Auflösung der Armee uneingeschränkten Beifall, aber die Forderung nach einem Europa, das überhaupt keine Armee mehr hat, stieß selbst in diesem Forum auf Skepsis. „Ich weiß nicht, ob mir das nicht zu unsicher gegenüber den Amerikanern ist“, sagte ein Teilnehmer.

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