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Jean Genet, Zuhälter der Genres

Der heitere Cocteau hat die männliche Homosexualität in Frankreich chic gemacht, der Gefängnisinsasse Genet aber hat sie als erster wirklich konkret benannt. Und das nicht in der akademisch unerschütterten Weise eines de Sade, sondern mit einer poetischen Prätention, die die Grenzen zwischen Pornographie und hoher Literatur aufzuheben schaffte. In seinem skandalösen Roman „Das Totenfest“ (1948) läßt Genet Hitler als geilen Päderasten auftreten, und die jungen Milizsoldaten werden als erotische Leckerbissen dargeboten. Hubert Fichte bemerkt: „Genets Geniestreich ist es, die Sprechformen des Mittelalters und der Renaissance auf die Homosexualität des II. Weltkriegs angewendet zu haben.“

In einem Gespräch mit Fichte (1977) versuchte Genet, seine skandalöse Poetik mit einer Unterscheidung zu entschärfen: „Die Idee eines Mordes kann schön sein. Der wirkliche Mord ist etwas anderes.“ Tatsächlich aber hat Jean Genet immer und mit größter Sicherheit genau die gesellschaftliche Schmerzgrenze angestrebt, an der jener Unterschied verschwindet. Idee und Wirklichkeit des Mords setzt er in eins, und in dieser semantischen Verwirrung und Provokation besteht die „Schönheit“ des Genetschen Mords. Das gilt nicht nur für die Morde der kräftigen homosexuellen Matrosen, Zuhälter und Soldaten seiner fünf Romane aus den 40er Jahren, sondern ebenso für die Gewalttaten der Black Panthers, der RAF und der PLO, mit deren Widerstand sich Genet seit den 70er Jahren identifizierte.

Mehrmals hat Genet einen radikalen Bruch im Genre vollzogen (Roman, Theater, Kunsttheorie, politisch-poetischer Essayismus); und auch die Objekte seines Interesses haben gewechselt (vom imaginären Verbrecher zum wirklichen Kämpfer). Doch noch als „politischer“ Autor erweist sich Genet als Ästhet; darin bleibt er sich treu. Mit der gleichen Verve, mit der der junge Genet die Poesie homosexueller Verbrecher behauptet, engagiert sich der alte Mann für die „Poesie“ des palästinensischen Widerstands. Genet hat die Maskerade geliebt, die alltägliche, erotische Theatralik derjenigen, die nicht dazugehören: die Maskerade der Schwachen, die sich als Starke gebärden.

Er wurde heute vor achtzig Jahren geboren. Ina Hartwig/Foto: Henri Cartier-Bresson, aus: „I Grandi Fotografi“, Mailand, 1983.

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