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„Demokratische Psychiatrie in Italien: Die Geschichte einer sabotierten Reform

Italiens Regierung beschließt Wiedereröffnung der 1978 geschlossenen Irrenhäuser/ „Korrektur von Fehlentwicklungen“ oder programmierter Wahlschlager?/ Parlament beschloß einst mit überwältigender Mehrheit die Psychiatriereform  ■ Aus Rom Werner Raith

Die italienische Regierung hat am vergangenen Donnerstag einen zwei Tage zuvor von Gesundheitsminister De Lorenzo vorgelegten Gesetzentwurf verabschiedet, der nahezu alle Errungenschaften, die in zwanzigjährigem Kampf gegen menschenunwürdige Unterbringung und Entmündigung in der Psychiatrie durchgesetzt wurden, anulliert.

Die Geschichte begann fast wie in den altbekannten Märchen: Am Anfang steht ein Herrscher, der nur an sich und seine Höflinge denkt und alle am liebsten eliminieren möchte, die weniger Besitz haben und weniger an die Herrschaftsstrukturen angepaßt sind. Weshalb er ihnen ihr mageres Eigentum und den mickrigen Schutz, den sie bisher hatten, auch noch entzieht. Doch aus dem Bösen entsteht Gutes: Die Armen werden intelligent, bringen das Volk auf ihre Seite und entziehen sich dem Herrscher.

Alles „Gute“ kommt aus Amerika

Der Herrscher hieß Ronald Reagan und war damals, 1967, Gouverneur von Kalifornien geworden. Weil er glaubte, daß die Sozialhilfeempfänger nur den Reichen das Geld wegschmarotzen, entzog er es ihnen, und weil seiner Ansicht nach die Irrenhäuser ihre Insassen zu üppig füttern, schloß er einen Großteil der Anstalten und warf die Insassen einfach auf die Straße.

Doch da geschah das Unerwartete: Die Hinausgeworfenen, obwohl viele von ihnen seit Jahrzehnten für unzurechnungsfähig oder sozial schädlich erklärt worden waren, erwiesen sich „draußen“ als ganz normale Menschen, richteten nicht mehr Schaden an als die anderen. Wichtig war, daß man ihnen eine zuträgliche Umgebung verschaffte und die Gewißheit der Versorgnung für den Fall einer Krise gab. Genau dafür sorgten nun die Helfer der anderen gebeutelten Schicht, der Sozialhilfeempfänger. Sie organisierten, teilweise mit Hilfe caritativer Einrichtungen, Notfallprogramme für ihre Sozialhilfe-„Klientel“ und versahen dabei auch die ehemaligen „Psychiatrischen“ mit.

Italien war der Vorreiter bei der Umorientierung

Es war der Beginn einer weltweiten Umorientierung im Umgang mit Patienten, bei denen man „Geistesgestörtheit“ und „psychische Krankheiten“ festgestellt hatte. Italien war dabei der unbestrittene Vorreiter, und die Ergebnisse konnten sich sehen lassen; derart, daß einzelne „offene“ Einrichtungen und die Forscher des nationalen Forschungszentrums CNR sich vor Besuchern aus dem Ausland kaum mehr retten konnten.

Das alles soll nun mit dem neuen Gesetzentwurf zurückgenommen werden. So recht begründen konnte der Minister den Schritt nicht, zumal sich nahezu alle Disfunktionen des Gesetzes auf Fehlentwicklungen in seinem eigenen Laden beziehen lassen (die er auch weitgehend zugibt). Geht die Reform der Reform im Parlament durch, „so werden die Schäden für die Kranken irreparabel sein“, wie Paolo Crepet, lange Zeit Leiter des CNR für Psychiatrie, erklärt. Denn „auch wenn vieles nicht so lief, wie es laufen konnte, so sprechen doch alle ernsthaft überprüften Erfahrungen für und nicht gegen die Reform. Und das seit Beginn der Bewegung.“

Chronische Schäden erst durch die Anstalten

Tatsächlich zeigte sich seit dem ungewollten „Experiment Reagan“ Erstaunliches: Die je nach Zeitgeschmack mal mit Vererbung, mal mit somatischer Veränderung, mal mit Schockerlebnissen, mal mit unausgeräumten Kindheitserinnerungen begründeten Störungen erwiesen sich bei einer gegen den herkömmlichen Strich gebürsteten Untersuchung „zu gut drei Vierteln allenfalls zu Beginn der ,Krankheit‘ als gegeben“, wie der Triester Psychiater Franco Basaglia Anfang der 70er Jahre aufgrund seiner Erfahrungen feststellte, „doch chronisch wurden sie dann meist erst durch die Behandlung in den Anstalten, als man sie einsperrte und infantilisierte“.

Die in den einschlägigen Einrichtungen angewandte Methode zielte meist entweder — wie in Italien 1975 in einer grauenerregenden Ausstellung über die „Manicomi“ gezeigt — auf eine zuchthausähnliche Unterbringung mit „Wärtern“, „Gummizellen“, „Zwangsjacken“ und „Elektroschocks“, oder aber auf eine „Totalentmüdigung“ (so der Psychiater E. Rebecchi) durch Beaufsichtigung oder gar Wegnahme auch der einfachsten alltäglichen Verrichtungen wie Bettenmachen oder Essenzubereitung. In den 60er Jahren kam dann der Pharmazie- Boom dazu: Nun wurden Tausende von Medikamenten eingesetzt, mit denen man aufmüpfige Patienten ebenso wie zur Depression neigende wesentlich einfacher als per Elektroschock oder Festbinden mißhandeln, auf andere Gedanken bringen oder gar vom Denken abbringen konnte.

Franco Basaglia, der sich schon seit seinem Studium weigerte, „Psychiater“ im herkömmlichen Verwahrungssinne zu sein und der deshalb in einer winzigen Provinzklinik arbeiten mußte, scharte in Oberitalien eine Handvoll Gleichgesinnter um sich und begann mit einer zuerst behutsamen, dann immer stärker forcierten Öffnung seiner Einrichtungen. Dabei mußte er gegen Widerstände auch von unerwarteter Seite kämpfen: Die Kommunistische Partei, sonst angeblich stets auf der Seite der Schwachen, fürchtete Gewalttaten Entlassener und eine Verschleuderung anderwärts benötigter Sozialgelder. Grünes Licht bekam er schließlich durch eine christdemokratische Stadt- und Kreisverwaltung in Gorizia. Der Erfolg war enorm: Die zunächst zugelassenen Begegnungen der Bevölkerung mit den „Irren“ auf dem Anstaltsgelände wurden bald zur Ausgangserlaubnis für die Insassen, schließlich wurde das Haus in eine allgemeine Klinik umgewandelt und dann in seiner Funktion als psychiatrische Anstalt völlig geschlossen.

Reform statt Abschaffung der Irrenhäuser

Die Erfahrung erregte nicht nur in Italien Aufsehen. Doch Italien zog zuerst auf breiter Basis Konsequenzen: Die überalterte traditionelle Psychiatrie wurde nun stark von neuen Gruppen, vor allem von der „Psichiatria democratica“, bekämpft, und Mitte der 70er Jahre brachte die Radikale Partei ein Referendum zur Abschaffung der Irrenhäuser ein. Um dem zuvorzukommen, verabschiedete das Parlament — und zwar mit einer überwältigenden Mehrheit, der sich lediglich die Neofaschisten verweigerten — eine Reform der psychiatrischen Anstalten: Klinisch behandelt werden durften künftig psychiatrische Fälle nur noch in Ausnahmefällen, unter Beachtung zahlreicher formeller Vorschriften (zustimmen mußte neben dem Hausarzt noch ein Psychiater und der Bürgermeister) und auch dann nur für 14 Tage. Irrenhäuser wurden abgeschafft, in den Allgemeinkrankenhäusern durften die psychiatrischen Krankenhäuser nicht mehr als 15 Betten aufweisen, um die Wiedereröffnung von „manicomi“ durch die Hintertür zu verhindern. Parallel dazu sollten in den Gesundheitsämtern „Centri di igiene mentale“ eingerichtet werden, die bei eventuellen Krisen rund um die Uhr für eine sofortige Intervention bereitstehen sollten.

Das „Gesetz 180“ (in Italien werden die Gesetze jährlich fortlaufend nummeriert) trat 1978 in Kraft — doch nicht nur die von der Entwicklung überrollten traditionellen Psychiater bearbeiteten Politiker und Administratoren, um ihre alte Tätigkeit wieder aufnehmen zu können: Auch die Reform der Gesundheitsämter kam nicht voran. In vielen Städten wurden sie erst Mitte der 80er eingerichtet, oft kamen an die Führungsstellen nicht Fachleute, sondern Parteibonzen, Personal fehlte chronisch.

Doch inzwischen hatte man von den vordem gut 100.000 psychiatrischen Patienten schon an die 70.000 entlassen — meist nach Hause geschickt zu ihren Verwandten oder in Übergangseinrichtungen, die dann immer mehr zur Dauerbleibe wurden. Als es Anfang der 80er Jahre zudem an die Haushaltskonsolidierung ging, wurde zuallererst am Sozialetat gespart, wie überall — so daß nun auch noch die schon funktionierenden Einrichtungen (etwa in Triest, Varese, Genua, Turin, Mailand, Arezzo, Rom) ins Trudeln gerieten. Immer mehr Verwandte zeigten Angst, daß ihre nun ihnen überantworteten Patienten etwas anstellen würden; einige (sehr wenige) Fälle von Pyromanie, vier bei orientungslosem Herumirren Umgekommene und ein Doppelmord durch einen Entlassenen erregten die Öffentlichkeit noch mehr. 1983 erkannte der neuernannte sozialistische Regierungschef Bettino Craxi, daß man mit der Sache Reklame machen kann: Da sich bereits Bürgerinitiativen zur Wiedereröffnung der Irrenhäuser mit mehreren hunderttausend Eingeschriebenen gebildet hatten, schrieb er die „Notwendigkeit einer Reform des Gesetzes 180“ ausdrücklich in sein Regierungsprogramm hinein.

Nun also ist es soweit — vorige Woche hat die Regierung beschlossen, sich der Sache anzunehmen — gerade rechtzeitig, um die Gesetzesprozedur das kommende Jahr hindurch warmzuhalten und so in die erste Phase des dann anstehenden Wahlkampfes hineinzukommen. Die Hauptmodifikationen: Die der Psychiatrie vorbehaltenen Spezialabteilungen werden wieder vergrößert; Patienten können wieder leichter gegen ihren Willen eingewiesen werden (die Zustimmung des Bürgermeisters ist nicht mehr unbedingt notwendig); im Falle des „Nichtfunktionierens“ der örtlich vorgesehenen Einrichtung kann die Regierung „substitutive“ Maßnahmen einleiten. Das kann im guten Falle bedeuten, daß fehlende Rund-um-die- Uhr-Betreuung durch Privatärzte garantiert wird; es kann aber auch bedeuten, daß allzu stark an der „offenen Psychiatrie“ hängende Ärzte bei konstanter Verweigerung der Einweisung versetzt werden können. „Und außerdem“, so fragt der „Schattengesundheitsminister“ der Kommunistischen Partei, die heute mächtig für die Beibehaltung der Errungenschaften streitet, „was heißt hier ,Substitution‘ durch die Regierung — wo sie sich seit einem Dutzend Jahren unfähig zeig, die damals beschlossenen Reformen auch nur zu einem Zehntel durchzusetzen?“

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