Machtkampf im Sowjetreich:
: Gorbatschow als Entwicklungsdiktator

■ Der konservative Apparat des Oberstens Sowjet wird Gorbatschow durch eine Reform der Verfassung mehr Macht geben, für die er Ruhe und Ordnung verspricht. Die Hilfsaktionen aus dem Westen können die Stimmung auf den Straßen nicht mehr wenden. Die Republiken verlangen die Teilung der Macht, die Bevölkerung eine Perspektive.

Präsident Gorbatschow hat es wieder einmal geschafft: Das vor einigen Wochen angekündigte Mißtrauensvotum gegen seine Präsidentschaft wurde vom höchsten legislativen Organ der UdSSR, dem Kongreß der Volksdeputierten, mit einer satten Dreiviertelmehrheit abgeschmettert. Nicht einmal alle 472 Abgeordneten der konservativen „Sojus“-Fraktion, die diesen Handstreich gegen den Präsidenten lanciert hatte, stimmten einer Befassung mit dieser Frage schließlich zu. Ohnehin hätte der Antrag erst das Verfassungskontrollkomitee passieren müssen, dessen Aufgabe es in solchen Fällen ist, zu kontrollieren, ob der Präsident tatsächlich gegen die bestehende Verfassung verstoßen hat. Erst dann dürfte der Kongreß darüber endgültig bescheiden. Insofern hatte diese Aktion von vornherein symbolischen Charakter und sollte auf die desolate Situation im Lande verweisen.

Die beruhigende Mehrheit für den Präsidenten kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die Stimmung im Lande nicht mit der Haltung des Kongresses deckt. Denn die Mehrheit seiner Mitglieder ist konservativ gestrickt. Die Sojus- Gruppe, in der sich Repräsentanten der Armee, des militärisch-industriellen Komplexes und der russisch-nationalen Interfronten gesammelt haben, bildet nur den rechtsaußen Flügel. Das Ergebnis der Abstimmung läßt sich dahin interpretieren, daß die Rechte trotz ihrer massiven Attacken in jüngster Vergangenheit nicht in der Lage ist, einen Alternativkandidaten zu präsentieren.

Zur Rettung der Nation hatte Viktor Alksnis, Koordinator der Gruppe, kürzlich noch die Einrichtung eines „Nationalen Rettungskomitees“ auf Koalitionsbasis propagiert. Der Kongreß sollte diesem Gremium alle legislativen Aufgaben übertragen, bis die Grundlagen eines neuen Wirtschaftssystems nach fünf bis zehn Jahren geschaffen seien. Jelzin und Gorbatschow sollten diesem Rat nicht angehören.

Die Mehrheit wollte diesem Vorstoß nicht folgen. Sie scheint mit Gorbatschows Anliegen, die Macht in seiner Person noch stärker zu zentralisieren, erstmal befriedet. Und der Präsident versprach dafür, hart für law und order zu sorgen, sollten seine Verfassungsänderungen angenommen werden. Auch die Armee soll ihren gebührenden Platz bei der Konsolidierung wieder erhalten.

Schaut man genauer hin, gibt es zwischen der Alksnis-Variante und Gorbatschows Vorstellungen gar nicht so große Unterschiede. Denn die Machtverschiebungen zugunsten des Präsidenten gehen eindeutig zu Lasten des Parlaments. Die Minister sind zukünftig nicht mehr dem Obersten Sowjet rechenschaftspflichtig, sondern dem Präsidenten. Und „Empfehlungen“ des Parlaments an die Regierung werden künftig nicht mehr zulässig sein. Zur Begründung heißt es, dessen Querschüsse hätten die Arbeit der Exekutive nur behindert. Zwei neue Kontrollkomitees sollen stattdessen dafür garantieren, daß die Dekrete des Präsidenten auch in die Praxis umgesetzt werden. Ein Sicherheitsrat wird vom KGB, dem Innen- und Außenministerium sowie dem Verteidigungsministerium beschickt.

Der Kongreß wird den Präsidenten nicht auflaufen lassen, nachdem der Oberste Sowjet sein Programm bereits gebilligt hat. Im Gegenteil: Sogar ein weites Spektrum der nichtkommunistischen Opposition begrüßt diesen Schritt in Richtung Entdemokratisierung. Die These, nur ein autoritatives Regime könne den Übergang in eine plurale Gesellschaft leisten, erfreut sich dabei wachsender Beliebtheit. Selbst Moskaus stellvertretender Bürgermeister Sergej Stankewitch stimmte in den Chor der Verfechter einer Entwicklungsdiktatur ein: „Unser politisches System sollte autoritärer sein“, meinte er am Rande der Sitzung.

Klar ist dabei, daß die Implementierung der neuen Strukturen nicht von einem personell und mental erneuerten Apparat übernommen wird. Das Herzstück seiner Reform begreift Gorbatschow in dem erneuerten und mit weiteren Befugnissen ausgestatteten Föderationsrat, dem die Vorsitzenden der Obersten Sowjets aller Republiken ex officio angehören. Dieses Gremium soll die Union zusammenhalten und gleichzeitig die Souveränität der Republiken wahren. Denn Dreh- und Angelpunkt der Strukturveränderung ist der krampfhafte Versuch Gorbatschows, den Zerfall des Reiches doch noch aufzuhalten. Amtsträger des Föderationsrates wären mit Vollmachten ausgestattet, direkt in die Angelegenheiten der Republiken einzugreifen. Zusätzlich soll eine Art Aufsichtsbehörde installiert werden, die Behörden auf Republiks- und lokaler Ebene daraufhin überwacht, ob sie Gorbatschows Dekreten auch Folge leisten. Das werden sich jene jedoch nicht bieten lassen. An dieser Frage kann es auch im Kongreß noch zu harten Auseinandersetzungen kommen. Schon jetzt kündigte der Präsident Tadschikistans, Machmkamow an, seine Republik werde den Vertrag nicht unterschreiben, wenn Änderungswünsche nicht berücksichtigt werden. Eine dieser Forderungen betrifft die glasklare Trennung der Zuständigkeiten zwischen Zentrum und Republik.

Dem widersprechen jedoch die Funktionen des Föderationsrates. Bisher galten gerade die mittelasiatischen Republiken als die treuesten Anhänger der Union. Auch hier deutet sich eine Wende an. Selbst Kasachstans Präsident Nasabarjew, möglicher Kandidat eines hohen Postens in der neuen Unionsregierung, sparte nicht mit Kritik an Gorbatschow. Kaum eine Republik zeigt sich bereit, den Entwurf des neuen Unionsvertrages anzusegnen. Das Baltikum lehnt die Unterzeichnung rundweg ab, Georgien ebenfalls und Armenien schickte, wie Lettland und Litauen, nicht einmal seine Volksvertreter auf den Kongreß.

Doch Gorbatschow möchte den Kongreß dazu bewegen, auch schon der fragmentarischen Fassung sein Placet zu geben, umso mehr Spielraum würden die Exekutivorgane der Union erhalten. Noch ist das Zentrum nicht willens, den Republiken die Entscheidung zu überantworten, welche Kompetenzen sie an Moskau freiwillig abtreten wollen. Das Verteidigungsministerium, das Transportwesen, die außenpolitische Vertretung und auch die Kommunikations- und Energiesektoren will Moskau weiter unter seiner Fuchtel halten. Doch mit den Verfassungsveränderungen behält der Präsident auch bei allen anderen Entscheidungen das letzte Wort.

Und das wird noch auf sich warten lassen. Die Republiken verlangen zunächst ihre Unabhängigkeit, dann neue wirtschaftliche Abkommen und erst im Anschluß wollen sie über einen neuen Unionsvertrag reden. Gorbatschows Entgegenkommen, ein Referendum in den Republiken abzuhalten, wird an ihrer Haltung wenig ändern. Der Präsident hat jetzt mehr Macht, aber kaum mehr Kraft. Das Unionspuzzle ist noch lange nicht fertig. Klaus-Helge Donath, Moskau