Den Mädchen Mut machen

■ Große Nachfrage beim ersten Berliner Mädchenhaus/ Viel zu viele muß der Zufluchtsort abweisen

Berlin. Stell dir vor, du bist 15, dein Vater trinkt, und wenn er voll ist, prügelt er dich und das nicht zu knapp. Mit deiner Mutter kommst du auch nicht klar. Du hast das Gefühl, du bist ihr scheißegal. Du gehst sooft wie möglich zu einer Freundin, aber dein Vater holt dich immer wieder zurück. Abhauen kannst du nicht, du bist doch seine Tochter. Du hältst es zu Hause einfach nicht mehr aus, aber wohin sollst du gehen? Vielleicht fällt dir ein Faltblatt in die Hände — über das neue Mädchenhaus. Dort kannst du erstmal bleiben, wirst versorgt und betreut, und dein Vater kann dich nicht aufstöbern, heißt es darin. Und wenn du anrufst und Glück hast, ist gerade ein Platz frei. Mitte August öffnete das erste Berliner Mädchenhaus nach zweijähriger Vorarbeit seine Pforten. Seitdem rufen dort jeden Monat 50 Mädchen an. Aber der Zufluchtsort verfügt nur über 10 Plätze für junge Frauen zwischen 14 und 21 Jahren. Die acht Betreuerinnen haben ihre Werbung mittlerweile eingestellt, zu oft müssen sie absagen.

Und was passiert, wenn die vier oder in Ausnahmefällen höchstens fünf Monate abgelaufen sind, die ein Mädchen bleiben darf? »Das ist das schwierigste Problem«, lautet übereinstimmend die Antwort. Manche Mädchen kamen in einer therapeutischen Wohngemeinschaft unter, andere gingen zur Oma oder zum Freund. Nur eine hatte bisher das Glück, eine eigene Wohnung zu finden. Ganz ähnliche Probleme haben die Bewohnerinnen der Frauenhäuser — und dort entstand auch die Idee für eine spezifische Einrichtung.

60 Prozent der bisher aufgenommenen jungen Frauen waren Ausländerinnen, zumeist Türkinnen. Von den deutschen Mädchen kam die Hälfte aus Ost-Berlin. Zwei Drittel von ihnen waren Opfer von sexuellem Mißbrauch. Eine junge Frau mußte einmal gar mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht werden, denn beim Erzählen ihrer Geschichte hatte sie sich übergeben müssen und einen bedrohlichen Anfall von Atemnot erlitten. Die meisten Mädchen leiden an psychosomatischen Beschwerden, Arztgänge und Krankenhausbesuche sind an der Tagesordnung. Über ihre Situation sprechen, sich gegenseitig stärken zu können, das sei eigentlich die wichtigste Erfahrung für die Mädchen, sagen die Mitarbeiterinnen.

Diese haben in der kurzen Zeit schon über 1.000 Überstunden abgeleistet. Der ursprüngliche Finanzantrag wurde vom rot-grünen Senat auf mehr als die Hälfte, auf 372.000 DM, zusammengestrichen. Davon werden die Gehälter, Miete und die Pauschalsätze — 600 Mark pro Mädchen und Monat — bestritten. Jetzt, unter dem neuen Senat, befürchten die Frauen sogar Kürzungen. Dabei benötigten sie nicht nur mehr Stellen, sondern auch Räumlichkeiten für Beratung, Nachbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit, denn das Haus selbst soll ja strikt geschützt bleiben. Die Mädchen dürfen dort keinen Besuch empfangen und müssen sich verpflichten, die Adresse nicht weiterzugeben. Das scheint geglückt: Bisher, so sagen die Frauen, »stand noch kein Vater vor der Haustür«. Helga Lukoschat