: D-Zug zum Kommiß wurde blockiert
■ 20 PazifistInnen setzten sich auf die Gleise, als die ersten Ost-Rekruten vom Hauptbahnhof aus in ihre Kasernen verfrachtet werden sollten
Friedrichshain. Gedrückte Stimmung statt »Frühstück in Paris«: Die jungen Männer, die gestern morgen vom Hauptbahnhof aus in die »Schule der Nation« verfrachtet wurden, ließen Abschiedskuß und Mutters gute Wünsche meist leise über sich ergehen. Nun vereinzelt kam es zu Bierdosenritualen und volksgenossenschaftlichen Gesängen. Doch den süßen und ehrenvollen Dienst am Vaterland mußten die ersten Bundeswehrrekruten aus Berlin und Brandenburg gestern mit halbstündiger Verspätung antreten. Denn der Zug, der sie in die alten Bundesländer bringen sollte, wurde von PazifistInnen blockiert. Rund 20 Personen setzten sich zur Abfahrtszeit um 9.33 Uhr vor die Lok des D-Zugs 10346 Richtung Hannover, weitere 30 Personen bevölkerten den Bahnsteig und verteilten Flugblätter. Sie sprachen sich gegen Zwangsdienste mit oder ohne Waffe und die »Ausbildung zum Mord« aus und riefen die »rekrutierten Bürger« zur Verweigerung aller Kriegsdienste auf: »Der Golf ist näher als Ihr denkt.«
Die Bahnpolizei und die Feldjäger griffen erst spät und eher betulich und zurückhaltend ein. Per Passiv- Strategie wurde der Zug rückwärts auf ein Nebengleis gezogen und verließ gegen 9.55 Uhr auf einem anderen Gleis den Bahnhof. Als schließlich eine Wanne der normalen Polizei zum Abgreifen anrückte, hatten sich die BlockiererInnen bereits vom Schotter gemacht.
Der Leiter des Kreiswehrersatzamtes Pankow, Steinlechner, beobachtete seine Jungs von der Bahnsteigkante aus und erteilte PressevertreterInnen nützliche statistische Informationen. Knapp 6.900 Ostrekruten rücken neben den 51.100 Männern aus den alten Bundesländern ein. Darunter sind rund 500 Männer aus Ost-Berlin und etwa 1.000 aus Brandenburg. Die gezogenen 13 Wehrflüchtlinge aus dem Westteil der Stadt waren nicht an Bord. Sie haben Widerspruch gegen ihre Einberufungen eingelegt. Die Ostler ziehen in die Kasernen der einstigen Nationalen Volksarmee (NVA) zwischen Kap Arkona und Fichtelgebirge ein, zwei Drittel der Ostler werden während ihrer 12monatigen Dienstzeit auch in den westlichen Bundesländern ausgebildet. Steinlechner sagte, man habe nur Ostler gezogen, die nach Kriterien der ehemaligen Nationalen Volksarmee »besttauglich« seien. Die Männer stammten aus dem Jahrgang 1971/72.
Die Musterungen und Einberufungen von Ostdeutschen waren unlängst von kritischen Juristen als »nichtig« bezeichnet worden, weil sie auf nicht rechtsstaatlichen Verfahren beruhen: In der Ex-DDR gab es keine Musterungsbescheide und Tauglichkeitsgrade. Gegen Musterungen und Einberufungen kann Widerspruch eingelegt werden.
Auch bei dem Rachefeldzug gegen die rund 40.000 Westberliner Wehrflüchtlinge, die sich in die entmilitarisierte Stadt abgesetzt hatten, mußte die Bundeswehr zeitweilig einen Rückzieher machen. Die Einberufungen, die zunächst von westdeutschen Kreiswehrersatzämtern ergingen, stellten sich als ungültig heraus. Die Akten mußten an den Wohnort Berlin weitergeleitet werden. kotte
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