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Große Politik beim Abendessen in Brüssel

Industrie und Banken mischen schon lange in der EG mit/ Neu sind Verbraucher- und Umweltorganisationen sowie Kirchen  ■ Aus Brüssel Richard Rich

In der Lobby des Berlaymont-Gebäudes wird es eng. Neue Gesichter drängen sich in die Empfangshalle des Hauptgebäudes der EG-Verwaltung in Brüssel. Sie mischen sich unter die traditionellen Lobbyisten, die bereits Ellenbogen stemmend auf Einlaß warten. Denn während Industrieverbände, Banken und Handelsunternehmen, aber auch die Regierungen der Bundesländer schon lange im europäischen Geschäft mitmischen, üben sich die Neuen noch in dieser „amerikanischen“ Politikform. Nicht am Trenchcoat oder Lodenmantel kann man sie unterscheiden, sondern am Arbeitgeber: Statt französische Parfümhersteller, japanische Autofirmen oder die europäische Biotech-Industrie vertreten sie die sogenannten Nichtregierungsorganisationen (NGOs). So werden Umwelt-, Konsumenten-, Kirchen- und andere nichtkommerzielle Verbände im internationalen Sprachjargon genannt.

Die Interessen der nichtkommerziellen Organisationen sind in der inoffiziellen Hauptstadt Europas noch schwach vertreten: Nur etwa dreißig alternative Lobbybüros gibt es in Brüssel, während runde 3.000 „Beobachter“ und 500 Organisationen der alten Garde, die vielen ausländischen Botschaften nicht mitgerechnet, bei den Brüsseler EG-Institutionen Ministerrat, Europaparlament und Kommission vorsprechen. Allen gemeinsam ist der Versuch, die EG-Fördertöpfe anzuzapfen und auf den EG-Rechts- und Normensetzungsprozeß Einfluß zu nehmen.

Prototyp des modernen Gegenlobbyisten ist Tony Venables vom Europäischen Bürger Aktionsdienst (ECAS). Er betreibt dieses Geschäft bereits seit elf Jahren und gehört damit zu den erfahrensten und beziehungsreichsten NGO-Lobbyisten. Seine Karriere unterscheidet sich nur geringfügig von der normaler Lobbyisten. Wie die meisten arbeitete auch er vorher in den EG-Institutionen und lernte dort die europäischen Schaltstellen und Schleichwege kennen. Bis letztes Jahr war er der Chef des Brüsseler Büros der EG-Verbraucherorganisationen. Letzten Sommer gründete er ECAS, eine Interessensvertretung für kleine Bürgerinitiativen. „Es gibt ein demokratisches Defizit“, sagt er, „gegen das angegangen werden muß. Denn dieses Ungleichgewicht von mächtiger Industrielobby und den Bürgerinitiativen in Europa bedroht eine demokratische Entscheidungsfindung.“

Statt einer Steinschleuder setzt der moderne David im Kampf gegen den industriellen Goliath einen Rundbrief ein, in dem er und seine MitstreiterInnen die aktuellen Themen mit den Namen der zuständigen Beamten publizieren, auf die die ECAS-Mitgliedsorganisationen dann Einfluß nehmen können. Zum Service für die Mitgliedsorganisationen aus den Bereichen Gesundheit, Kultur und Bildung, öffentliche Wohlfahrt und Bürgerrechte gehören die Vermittlung von Kontakten, Nutzung von Büroräumen und spezielle Recherchen. Bislang wird ECAS von einem britischen Bauunternehmer, den Quäkern und britischen Verbraucherschutzorganisationen gesponsert, die über die Einflußnahme auf Brüsseler Entscheidungen aus der Sackgasse herauskommen möchten, in die die heimische Sozialpolitik geraten ist.

Ähnliches bietet das vom deutschen Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit finanzierte Informationsbüro Brüssel Jugend und Arbeit (BBJA). Auch die dort beschäftigten drei Mitarbeiter geben einen Rundbrief mit Infos über Entscheidungen und Entwicklungen in den EG-Institutionen vor allem im Bereich Jugendsozialarbeit heraus. Die zwanzig Kooperationspartner von BBJA sind aber weniger an der Beeinflußung des Gesetzgebungsprozesses interessiert. Für sie steht im Vordergrund ihres Brüsseler Engagements, wie sie sich am leichtesten aus den Fördertöpfen der EG für Soziales und Aktionsprogramme ihre eigenen Projekte finanzieren lassen können. Darüberhinaus versuchen sie potente „Bietergemeinschaften“ zu gründen, um von der Kommission einmal mit der — lukrativen — Abwicklung von EG- Programmen beauftragt zu werden.

Ganz in der Nähe des BBJA-Hauses hat auch die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) eine Lobbyzentrale gegründet. Die Initiative dazu ging von leitenden Juristen der Landeskirschen aus, als sie hörten, daß die EG im Rahmen des Binnenmarktes die „Säkularisierung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat“ plant. Mit ihrer Präsens in Brüssel wollen sie verhindern, so ihr Brüsseler Vertreter, der Oberkirchenrat Hans-Joachim Kiderlen, daß „das in der EG einmalige deutsche Modell staatskirchenrechtlicher Beziehungen mit seinem umfassenden Privilegiensystem“ ausgehebelt wird. Von „Bedrohungsgefühlen“ ist die Rede, schließlich will die EG auch den europäischen Spendenmarkt liberalisieren. Während es bei der EKD also vor allem um die Wahrung der nationalen Privilegien der Großorganisation Kirche und bei BBJA um das Anzapfen von neuen Töpfen geht, beschäftigen sich andere mit der Koordinierung von neutralen und blockfreien Friedensinstitutionen, dem Verhältnis Verkehr und Umwelt, dem Tierschutz und Asylproblemen.

Denn die EG arbeitet nicht nur an Milchseen und Fleischbergen. Sie erläßt auch Gesetze zu Themen wie Abwasser, Ausländerwahlrecht, Gentechnik, Sicherheit am Arbeitsplatz und Armut. An all diesen Bereichen sind Bürgerinitiativen und alternative Organisationen in Europa interessiert. Sie merken plötzlich, daß es nicht mehr genügt, nur auf nationaler Ebene präsent zu sein, sondern daß sie auch Einfluß nehmen müssen in Brüssel. EG-Recht geht schließlich in vielen Fällen vor nationalem Recht.

Wie aber sieht der Prozeß der „Einflußnahme“ aus? Der idealtypische EG-Lobbyist muß mindestens drei Aufgaben erfüllen:

—er macht seine Klientel möglichst früh auf neue EG-Entscheidungen aufmerksam;

—er beeinflußt auf formellen und informellen Wegen die Ziele und Stoßrichtung der EG-Politik;

—er zockt, wo es auch immer geht, EG-Finanzmittel ab.

Dazu muß er sich aber nicht nur täglich bei der Subventionscheckausgabe anstellen, wie es noch manche Brüssel-Unkundige vermuten. Vielmehr findet das Ausmauscheln solcher Geschäfte traditionell in dem alkoholisierten und lukullischen Dunstkreis der Pubs rund um das „Berlaymont“ und in den teuren Speiselokalen in der Brüsseler Altstadt statt.

Diese „Arbeitsessen“ in menschlicher oder männlicher Atmosphäre werden von dem einen oder anderen Kommissionsbeamten, der abgehoben und fern der Heimat seinen Dienst schiebt, nicht verschmäht. Hier besteht ein Vakuum, das geschickte Lobbyisten auszufüllen versuchen. Allerdings haben es die Alternativlobbyisten dabei schwieriger, schließlich sind sie meist Außenseiter in diesem Milieu. Auf offene Ohren stößt aber auch der NGO- Lobbyist, wenn er von den Kommissionsbeamten als Bündnispartner in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Abteilungen der eigenen Verwaltung oder im Kampf gegen den allmächtigen Ministerrat genutzt werden kann. Um ihre vergleichsweise schwache Stellung auszubauen, hat sich die Umweltabteilung der Kommission beispielsweise eigens Lobbyorganisationen wie das Brüsseler Umweltbüro herangezüchtet.

Der chronische Geldmangel der NGO führt zu einer eigenartigen Symbiose zwischen Kommission und NGO-Vertreter, die nicht selten in direkte Abhängigkeit mündet. Resultat ist ein Ballspiel gegenseitiger Gefälligkeiten. Dieses Lobbyritual kennt keine Unterschiede zwischen Opfer und Täter. Doch aus Sicht der Kommission, die ständig ihre Existenzberechtigung unter Beweis stellen und ihre Position im Verhältnis zu den Mitgliedsregierungen ausbauen will, hat es eine wichtige Funktion. Im Unterschied zu den USA gibt in der Brüssel EG-Verwaltung noch keine offiziellen Regeln für den Umgang mit Lobbyisten. Der US-erfahrene Kommissionssprecher Bruno Julien behauptet, Kommissionsbeamte zeigten sich generell für „Informationsgespräche“ offen, wenn die Fürsprecher drei Kriterien erfüllen: eine professionelle Herangehensweise (der Beamte muß sich sicher sein, nicht irgendwo zitiert zu werden), strategisches Denken und die Lieferung nützlicher Informationen. Nationale Kriterien spielen dabei eine untergeordnete Rolle: Etwa als deutscher Lobbyist auf bevorzugte Behandlung durch deutsche Kommissionsbeamte zu hoffen, kann ins Auge gehen, haben diese trotz sprachlicher Affinität, doch teilweise eine europäische Identität aufgebaut und wollen sich von ihren Kollegen nicht nachsagen lassen, nationale Interessen zu protegieren.

Tatsächlich ist der Einfluß alternativer Lobbyisten verglichen mit der traditionellen Lobby jedoch relativ gering. Die „Offenheit“ in der EG-Kommission beschränkt sich häufig auf die Türen. Offene Ohren leiht man lieber denjenigen, die einem helfen, die eigene Karriere voranzubringen.

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