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Heilig, heilig!

■ Die Wiedergeburt religiöser Metaphorik in der Sowjetunion KOMMENTARE

Die Berufung auf die „letzten Dinge“, die religiöse Dienstverpflichtung, nimmt bei den sowjetischen Staatsmännern überhand. Hatte Gorbatschow auf dem Volkskongreß und dann in seiner Neujahrsbotschaft schon erklärt, es gebe nichts Heiligeres als die Bewahrung der Sowjetunion, so hat jetzt der Verteidigungsminister, General Dimitri Jasow, im 'Krasnaja Swesda‘ („Roter Stern“) verlauten lassen, es sei die „heilige Pflicht der heutigen und künftiger Generationen, den Status der UdSSR als Großmacht zu erhalten“. Nicht daß es in der Sowjetunion neu wäre, „das Heilige“ in den Dienst profaner Machtpolitik zu stellen: Vom Schwur Stalins an Lenins Grab über die unablässigen Bemühungen heiliger Pflichten nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion bis zur Heiligung der sozialistischen Weltgemeinschaft zieht sich der Gebrauch religiöser Pathosformeln im Augenblick der Krise. Es geht nicht darum, zum x-ten Mal den Verfall einer Ideologie zu beklagen, an deren Anfängen immerhin die Forderung gestanden hatte, die religiöse Vorstellungswelt als eine entfremdete Form menschlicher Bedürfnisse zu begreifen. Vielmehr gilt es, die konkrete Funktion dieses Revivals des Heiligen dingfest zu machen. Was ist das Allerheiligste? Die russische Erde. Nicht umsonst hat Gorbatschow kürzlich gemahnt, das Werk des Zaren Iwan Kalita, des „Sammlers der Erde“, nicht zu zerstören. Wir sind Zeuge einer unheiligen Allianz zwischen dem großrussischen Nationalismus und der um den Erhalt ihrer Macht kämpfenden zentralen sowjetischen Bürokratie. Aggressiv ist diese Allianz deshalb, weil es ihr — im Gegensatz zu Solschenizyn — nicht um „Reue und Rückkehr“, mithin um eine defensive Position geht, sondern um den Erhalt des Großreichs — notfalls mit den Mitteln der Gewalt.

Denn wo das Heilige bemüht wird, ist die Legitimation für den Heiligen Krieg nicht fern. Profan, dafür aber vernünftig wäre es gewesen, die neue Sowjetunion auf der Grundlage gleichberechtigter Verhandlungen der ehemaligen Sowjetrepubliken zu bilden, unterschiedliche Formen der Assoziation zuzulassen und diejenigen ziehen zu lassen, die es unbedingt wollen. Lange Zeit schien es so, als ob dies die Haltung des „Westlers“ Gorbatschow wäre. Der Rücktritt Eduard Schewardnadses ist ein Alarmzeichen dafür, daß der sowjetische Präsident diesen „zivilen“ Weg verlassen will. Wer für eine heilige Sache kämpft, denkt nicht in den Kategorien des Kompromisses und des Ausgleichs. Schewardnadses Warnung, den Notstand und das Präsidialregime in den baltischen Staaten nicht einzuführen, entspringt nicht oder nicht nur den Sorgen eines Georgiers vor dem Eingreifen der Zentralmacht in seiner Heimat. Sie ist von der Einsicht diktiert, daß zwar am Anfang ein unblutiger Handstreich in Riga oder Vilnius stehen mag, am Ende aber ein allgemeiner, das Imperium zerstörender Bürgerkrieg. Christian Semler

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