: Polens Politiker sehen sorgenvoll nach Osten
Polen hat schon jetzt einen Vorgeschmack auf die anstehende Grenzöffnung der Sowjetunion bekommen/ Zunahme der Flüchtlingswelle läßt Ausländerfeindlichkeit wachsen/ Ausschreitungen gegen Sowjetsoldaten sind an der Tagesordnung ■ Aus Warschau Klaus Bachmann
Zwischen 70.000 und 90.000 Sowjetbürger seien schon jetzt in Polen, berichten polnische Zeitungen unter Berufung auf Oberst Skoczylas, den „Flüchtlingsbeauftragten“ des polnischen Innenministeriums. Da Sowjetbürger zur Einreise nach Polen nichts weiter als Einladungen und einen Reisepaß benötigen (im kleinen Grenzverkehr nicht einmal das), kommen immer mehr von ihnen nach Polen, um zu handeln, zu arbeiten oder Verwandte zu besuchen. Im Grenzbereich in der Gegend zwischen Bialystok und Przemysl ist inzwischen schon ein ähnlicher „Handelsverkehr“ entstanden wie an der Westgrenze zwischen Deutschen und Polen. Und manche der von polnischen Händlern in der ehemaligen DDR eingekauften Westerzeugnisse wandern so in die Sowjetunion weiter.
Bis nach Warschau reichen die Handelswege der sowjetischen Schmuggler und Händler inzwischen, die Targowastraße im berüchtigten Warschauer Stadtteil Praga Nord ist fest in der Hand sowjetischer Händler, selbst in der Stadtmitte, vor dem Kulturpalast hört man immer mehr Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch.
Wenn in diesem Jahr die Ostgrenze noch weiter geöffnet wird, ist abzusehen, daß der Reiseverkehr noch größere Ausmaße annimmt. Angesichts der politischen und ökonomischen Lage in der Sowjetunion existieren sogar mehrere Szenarien in den Schubladen des Innenministeriums: Da wird schon mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes in der UdSSR gerechnet, mit „einem Super-Karabach“ oder auch einfach mit einer „Brotemigration“ aufgrund der schlechten Versorgungslage. In allen Fällen werden Menschen nach Westen ziehen.
„Die Grenze werden wir nicht dichtmachen“, erklärt Jan Skoczylas immer wieder in der Öffentlichkeit, „wir können ja nicht verlangen, daß der Westen seine Grenzen für uns öffnet, und gleichzeitig unsere schließen.“ Das Problem dabei ist: Der Westen scheint genau auf eine polnische Maßnahme dieser Art zu hoffen. Zeitungsmeldungen zufolge wird Polen noch eine Weile auf die Abschaffung der Visumpflicht durch die Länder des Schengener Abkommens warten müssen. Die nämlich verlangen, daß Polen für rumänische und sowjetische Emigranten dichtmacht, damit diese nicht durch Polen in die EG gelangen können. Einreiseverschärfung für Rumänen, die von nun an ein Rückfahrtticket und 20 Dollar pro Tag Aufenthalt in Polen vorweisen müssen, sind allerdings eher eine Konzession an die öffentliche Meinung in Polen selbst gewesen. Die rumänischen Familien weigerten sich, sich vom polnischen Roten Kreuz verpflegen zu lassen, nächtigten mit Kleinkindern und Säuglingen zu Hunderten auf den Warschauer Bahnhöfen und bettelten. 50.000 Flüchtlinge sei die Grenze, ab der Polen technische Schwierigkeiten mit Unterbringung und Verpflegung bekomme, meint Skoczylas, 100.000 dagegen wäre schon „ein richtiges Drama“.
Polen hat bisher weder das Genfer Flüchtlingsabkommen unterschrieben, noch verfügt es über ein Asylgesetz. Aus der Zeit der Volksrepublik gibt es lediglich einen Passus über „Asyl für verfolgte Kommunisten“ aus der Zeit, als Polen griechischen Kommunisten, die unter der Militärdiktatur geflohen waren, Schutz bot.
Sollte sich ähnliches nun in der Sowjetunion wiederholen, rechnet man in Polen damit, daß sofort mindestens ein Drittel der sowjetischen Touristen in Polen um Asyl ansuchen wird. 50.000 Flüchtlinge würden Polen nach Berechnungen des Innenministeriums 1,2 Billionen Zloty (120 Millionen Dollar) kosten und somit „den Zusammenbruch unserer Wirtschaft bedeuten“, schreibt etwa die 'Gazeta Wyborcza‘. Bei einer halben Million Flüchtlinge stiegen die Kosten gar auf 25 bis 40 Billionen Zloty. Daher erwägt man im Innenministerium nun doch Gegenmaßnahmen, für alle Fälle: eine bessere Bewachung der Grenze und gestaffelte Einreisebeschränkungen, von Devisennachweisen bis zur Visumpflicht.
Bisher hat sich die Ausländerfeindlichkeit in Grenzen gehalten, denn die meisten Ausländer, die in Polen Aufnahme gefunden haben, nutzten das Land nur als Transitstation für die Weiterfahrt gen Westen. Flüchtlinge aus arabischen Ländern, die mit gefälschten schwedischen Visa in Polen ankamen, warten nun auf ihre Weitervermittlung durch die zuständigen UN-Behörden. Mit Schwierigkeiten rechnet Skoczylas für die Zukunft. Nur wenige Tage vor Weihnachten wandte sich das Büro des Regierungsbevollmächtigten für die in Polen stationierten Einheiten der Roten Armee besorgt an die Presse: Die Überfälle auf Soldaten der Roten Armee nähmen in den letzten Wochen erschreckend zu. Oberst Stefan Golebiowski bat das Innenministerium um verstärkte Patrouillen für die Siedlungen der Angehörigen der sowjetischen Soldaten. Am 12. Dezember kam es zu einem besonders häßlichen Überfall in der Woiwodschaft Jelenia Gora (Hirschberg), als zehn betrunkene Männer über zwei Soldaten herfielen, sie verprügelten, Hunde auf sie hetzten, entkleideten und gefesselt auf ein Eisenbahngleis legten, um sie erst im letzten Moment vor dem Zug herunterzuziehen. Bei Zielona Gora (Grünberg) wurden sowjetische Soldaten sogar von Unbekannten beschossen, in Legnica warfen Unbekannte eine Bombe in eine sowjetische Schule.
Gegen die sowjetischen Händler sind ähnliche Ausschreitungen noch nicht bekanntgeworden, was auch daran liegen mag, daß diese solche Vorfälle nicht anzeigen, da sie sich selbst an der Grenze der Legalität bewegen.
So ist es ein offenes Geheimnis, daß viele der Sowjetbürger, die in der Tragowastraße ihre Waren feilbieten, an organisierte Jugendbanden Schutzgelder zahlen. Zeitungsberichten zufolge erpressen ähnlich organisierte Banden auf der polnischen Seite der Grenze nach der Zollabfertigung bei Straßenblockaden „Wegegeld“ von sowjetischen Schmugglern. Kein Wunder, daß man daher besonders bei den Sicherheitsbehörder anstehenden Grenzöffnung mit Sorgenfalten entgegensieht: Polens Polizei wird schon mit den einheimischen Banden nicht fertig, wie soll es dann erst aussehen, wenn die sowjetische Mafia kommt? Und auch die polnische Unterwelt sieht diesen Zeiten mit gemischten Gefühlen entgegen.
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