: IN GROSSES SCHWARZES LOCH
■ Die Stadt Essen kämpft gegen ihr Negativ-Image
Die Stadt Essen kämpft gegen ihr Negativ-Image
VONGÜNTERERMLICH
Es ist schon ein Kreuz. Da schreiben sich die amtlichen Stadtwerber und Öffentlichkeitsarbeiter seit Jahren die Finger wund, um gegen das schlechte Image anzukämpfen, gegen die düstere Vorstellung vom Ruhrgebiet als grauer Kohlenpott und abgehalftertes Industrierevier. Doch die ganze Schreibtisch-Maloche, so scheint es, ist ziemlich nutzlos.
Wir sind auf Pressereise in Essen, in der Ruhr-Metropole, mitten im größten europäischen Ballungszentrum. Wir werden verfolgt. Verfolgt von Vorurteilen, die unsere Essener Gastgeber — Honoratioren, lokale Spitzenpolitiker, Wirtschaftsrepräsentanten — bei uns aus der Fremde Angereisten im Handgepäck vermuten: Essen, das ist dreckige Luft, rauchende Schlote, riesige Kohlehalden. Ein großes schwarzes Loch, um das man am besten einen großen Bogen macht.
Diese Stadt-Ansicht geistert in den Köpfen der Einheimischen herum wie ein unausrottbares Gespenst. Kollektiver Minderwertigkeitskomplex. Deshalb schaltet Essen im Verbund mit anderen Ruhrgebietsstädten seit einigen Jahren doppelseitige Illustriertenanzeigen mit dem Slogan „Ein starkes Stück Deutschland“. Mit unvermuteten Szenarien soll das festgefressene Bild abgebaut werden. Zum Beispiel durch „Essen zeigt sich“, die offizielle Stadtbroschüre. Auf dem Cover posiert grazil ein lächelndes junges Ballettmädchen in hellblauem Rüschenkleidchen. Dann folgt, nein, nicht „Essen malocht“, sondern „Essen schafft Kultur“: Grillo-Theater, Gruga-Halle, Folkwang-Museum, die Alte Synagoge, dekorativ illustriert vom weißgewandeten, geschwungenen Aalto-Opernbau, der in den tiefblauen Essener Himmel ragt.
Essen ist älter als München oder Berlin. Als Bischof Altfried von Hildesheim anno 852 ein Stift zur Erziehung sächsischer Damen des Hochadels gründete, ahnte er wohl kaum, daß er damit den Grundstein der Stadt Essen legte. Tausend Jahre später baute Alfred Krupp sein Fabrikgelände zum größten Industrieimperium der Welt aus, zeitweise zwanzigmal so groß wie die einen Quadratkilometer kleine Essener Innenstadt. Die Alliierten wußten, daß hier die „Waffenschmiede der Nation“ beheimatet war. Noch heute halten viele Leute Essen für eine Erfindung von Krupp.
Einst war Essen die führende Bergbaustadt Europas. Seit 1986, als Schacht XII der „Zeche Zollverein“ dichtmachte, ist sie zechenlos. 55.000 Bergleute verloren ihre Arbeitsplätze. Die „Kokerei Zollverein“ mit circa 800 Beschäftigten ist das einzige, was heute von der Schwerindustrie geblieben ist.
Was tun mit dem verrottenden Industriegelände? Die Stadtoberen entschieden sich für die „Grüne 14“ und gegen eine zweite Bundesgartenschau. An 14 neuralgischen Punkten wurden Zechengelände und Kokereien begrünt und Spazierwege, Spiel- und Bolzplätze, auch Liegewiesen angelegt. Luft zum Wieder- Atemholen.
Stadt der weißen Kragen
Durch das Aus bei Kohle und Stahl ist Essen nach zwangsvollzogenem Strukturwandel eine Stadt des tertiären Sektors geworden. „Stadt der Energie“, Sitz der Hauptverwaltungen von Ruhrkohle AG und RWE (nicht zu verwechseln mit dem zweitklassig dahindümpelnden Fußballklub gleichen Kürzels), Ruhrgas, Deminex und Steag. Auch Karstadt, der größte Kaufhauskonzern Europas, hat hier seine Zentrale. „Essen — die Einkaufsstadt“ steht in riesigen Lettern auf dem Hoteldach gegenüber vom Bahnhof. Früher trugen über 60 Prozent der erwerbstätigen Essener den blauem Kittel, heute laufen 70 Prozent mit weißem Kragen herum: Einzelhandel, Banken, Versicherungen beherrschen die Wirtschaft und mit ihren Bauten das Stadtbild.
Das Aufmotzen der Innenstadt mit Prunkpalästen bei gleichzeitiger Vernachlässigung der armen Stadtteile hat viele Kritiker auf den Plan gerufen. Als Synonym kommunalen Größenwahnsinns gilt der 22stöckige, 106 Meter hohe Glasturm des neuen Rathauses. „Wir trauten unseren Augen nicht“, meint unsere Stadtführerin, „als unser Rathaus 1979 im Guinness-Buch der Rekorde auftauchte, als das höchste in Europa“. Selber schuld. „Wir werben aber nicht damit“, fügt sie fast entschuldigend hinzu.
Essen, im ständigen Populationswettrennen mit Frankfurt am Main, jüngst aber von der sächsischen Messemetropole Leipzig überholt, ist jetzt die sechstgrößte Stadt der Republik. Die Stadt hat zwar genausoviele Einwohner wie Frankfurt, aber mit 2,6 Milliarden Mark jährlich nur einen halb so hohen Etat. Die Verteilungsprobleme für die konservativ regierende SPD sind zunehmend schwierig. Sie hat seit anno dunnemals satte Mehrheiten im Rat der Stadt, kommt in manchen Bezirken auf über 80 Prozent. „Da wird vom SPD-Klüngel alles informell ausgedealt“, gibt einer unserer Begleiter, der es wissen muß, unumwunden zu.
Das Süd-Nord-Gefälle in der Stadt ist beträchtlich, zwischen Baldeneysee und Borbeck tun sich soziale Klüfte auf. Der Norden ist das Viertel der Malocher, im Süden residiert die Hautevolee. Als Alfred Krupp sich hier, hoch über der Ruhr, in seiner Gründerzeit-Villa „Hügel“ niederließ, gab es den Baldeneysee noch nicht. Heute allererste Essener Freizeitadresse, wurde der See, Staustufe der Ruhr, 1931 als ABM- Maßnahme ausgebuddelt. Auch der Hügel-Park mit kurzgeschorenem Rasen ist künstlich: Krupp ließ den kahlen Hügel mit allerlei importierten Hölzern bewalden. Mit 75 Hektar ist er noch größer als der Gruga- Park. Die „Große Ruhrländische Gartenbau-Ausstellung“ (Gruga) von 1929 gehört mit der schmetterlingsförmigen Gruga-Halle, dem städtisches Wahrzeichen, zum touristischen Pflichtprogramm.
Gleich nebenan liegt die „Messe im Grünen“. „Wir sind Marktführer der Freizeitmessen“, verkündet Messechef Claaßen nicht ohne Stolz: Der Caravan-Salon, die Camping + Touristik, die Motor-Show, die Fibo (Fitneß- und Bodybuilding), die Billard-Messe. Nicht zu vergessen die Brieftauben-Ausstellung. Die „Rennpferde des kleinen Mannes“, des malochenden „Taubenvattas“, sind heute auch bei Akademikern als Freizeitsport beliebt.
Gästeströme werden künstlich erzeugt
„Wenn kein natürlicher Gästestrom nach Essen kommt, entsteht auch kein gehobener urbaner Bedarf“, skizziert Messechef Claaßen das Dilemma. „Also müssen wir einen erzeugen.“ Essen besuchen vorwiegend Touristen aus Holland und Belgien — wegen der preisgünstigen Warenkorbs. Daneben noch Langzeit- und Dauercamper, die ihr Wohnmobil auf einem der Zeltplätze am Baldenysee abstellen.
Jetzt sollen attraktive Offerten, Konzerte, Ausstellungen, Sportveranstaltungen, den Stadt-Tourismus ankurbeln. Essen muß aber schon in die kommunale Spitzenkultur kräftig reinbuttern, zum Beispiel 160 Mark für jede Eintrittskarte in die formidable neue Oper, das jüngste Renommierobjekt, vom finnischen Stararchitekten Alvar Aalto entworfen. Da bleibt kaum Kohle für kulturelle Extras. So wurden die beiden Großausstellungen dieses Sommers, um die Erlebnis-Touristen anzulocken, fremdfinanziert: die St. Petersburg- Ausstellung in der Villa Hügel von der „Kulturstiftung Ruhr“, die Van- Gogh-Ausstellung im Folkwang- Museum von der Ruhrgas AG.
Jugendzentrum als alternatives Alibi
Altenessen, der ehemalige Bergarbeiterstadttteil, ist heute das größte Sanierungsgebiet in ganz Nordrhein- Westfalen. Hier werden die Defizite der sozialen Infrastruktur augenfällig: viele Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, hoher Ausländeranteil, schlechte Wohnungen, belastete Böden, verschmutzte Luft. Die Menschen wanderten ab. Um die miesen Freizeitbedingungen zu verbessern, gelang es einer Bürgerinitiative in jahrelangen Kämpfen mit der Stadt, die stillgelegte Zeche Carl mit Malakoff-Turm, Maschinenhalle und Casinogebäude zu erhalten. „Was das Barockschlößchen für Bayern, das ist die Zeche für die Ruhrregion“, trifft Willi Overbeck den Nagel auf den Kopf. Aus der BI wurde ein ,e.V.‘ und aus dem ehemaligen Casinogebäude ein Jugend- und Kulturzentrum. In jahrelanger, ehrenamtlicher Wühlarbeit hat Overbeck mit Hunderten von Jugendlichen die alten Lohnhallen, Waschkauen, Werkstätten und die Turnhalle umgestaltet. Die Zeche Carl ist ein selbstverwaltetes, basisdemokratisches Projekt, mit der Institution des Willi Overbeck. Willi ist zugewanderter Rheinländer und seit langem Gemeindepfarrer in Altenessen. Den „Rheinlandtaler“, Kulturorden für Denkmalschutz, hat er sich nicht ans Revers gesteckt. Dafür aber jede Menge anderer Sticker, auch rote mit kyrillischer Schrift.
Stadt und Zeche Carl scheinen sich endgültig arrangiert zu haben: Essen hat ein jugendlich-modernes Aushängeschild, das Jugendzentrum eine vertraglich gesicherte Bleibe. Heute tummeln sich hier Menschen aller Klassen und jeden Alters beim Frauenschwof oder Schwulentreff, auf türkischen Hochzeiten, im Tanzcafé für die reiferen Altenessener oder der täglichen „offenen Tür“ für Jugendliche. „Es hat sich klimatisch gelohnt“, bilanziert Willi Overbeck, „vor allem die gegenseitige Akzeptanz von Ausländern und Einheimischen ist bei uns größer als anderswo.“
Essen — eine Zukunft wird besichtigt, so der programmatische Titel des Stadtwerbefilms von Peter von Zahn, der in diesen Tagen in Essen anläuft. In einer Filmsequenz spielen in der Zeche Carl die „Golden Blutgerinnsel“, goldene Hosen, grüne Haare, rote Socken, auf leeren Benzinfässern. „Jagt die Bonzen aus dem Rathaus!“ ist im Hintergrund auf der besprühten Wand zu lesen. Kommentar: „Hier probieren die Jugendlichen, wieviel Phon ein Ohr, wieviel Laserstrahlen ein Auge und wieviel Widerspruch ein Erwachsener verträgt.“ Modische Selbstdarstellung der Stadt. Und wieviel Widerspruch verträgt Essen? Wenn es seine unsägliche Imageneurose überwindet, wäre das schon die halbe Miete.
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