: „Wenn schon Vereinigung, dann eine mit Kamerun“
Über die Streitschrift „Von deutscher Bulimie“ von Joseph von Westphalen ■ Von Henryk M. Broder
Vorausschicken möchte ich, daß ich die Vereinigung gut und richtig finde; nicht weil ich die unheimliche Tradition eines idiotischen deutsch-jüdischen Patriotismus à la H.J. Schoeps („Bereit für Deutschland!“) für fortsetzungswürdig halte, sondern weil ich es gut und richtig finde, wenn Grenzen fallen, wenn Menschen sich frei bewegen und nach Belieben über ihren Wohnort entscheiden können. Außerdem hatte ich eine persönliche Rechnung mit der DDR offen, die nun von der Geschichte beglichen wurde. 1965 wäre ich beinah von der Schule geflogen (Hansa Gymnasium, Köln), weil ich mich in der Schülerzeitung über die nationale Pflicht lustig gemacht hatte, die DDR eine „sogenannte“ nennen zu müssen. Damit hatte ich mich an den Abgrund von Landesverrat herangewagt, und nur der fröhliche Umstand, daß meine Eltern Verfolgte des NS-Regimes waren, rettete mich vor dem fälligen Schulverweis. Und wie dankte es mir der erste deutsche Arbeiter- und Bauernstaat? Bei jedem „Grenzübertritt“, ob es Helmstedt oder der Bahnhof Friedrichstraße war, wurde ich schikaniert, in jedem HO-Laden wie ein Besatzer behandelt und an jeder Ampel wie ein Marsmensch angestarrt. Nirgendwo sonst in der Welt ließ ich mir Grobheiten, Unverschämtheiten und schlechten Service gefallen, weil ich nicht arrogant erscheinen wollte, an keiner anderen Grenze verhielt ich mich dermaßen duckmäuserisch, weil ich genau wußte, daß ich gegen diese uniformierten Dummbeutel, die mich mit einer Mischung aus Haß und Neid anschauten, keine Chance hatte. Ich habe nie an das „bessere Deutschland“ jenseits der Elbe geglaubt und an den Sozialismus nach SED-Art noch nie eine Hoffnung geknüpft. Ich habe also keinen Grund, der DDR auch nur einen Moment nachzutrauern. Und wenn ich heute durch Ost-Berlin oder eines der neuen Bundesländer fahre, dann komme ich mir vor, als wäre ich in Uganda, nur daß man am Prenzlauer Berg, in Potsdam und Putbus zufällig deutsch spricht. Diese Eingeborenen können nicht Auto fahren, sie haben den Charme von Lemuren, die Manieren von Landsern, und was sie einem als Essen in ihren „Speisegaststätten“ servieren, wäre fast immer ein Grund, Anzeige wegen versuchten Totschlags zu erstatten. Erst nach einer längeren Fahrt durch die ehemalige DDR kann man die zivilisatorische Wirkung des Kapitals in vollem Umfang bemessen. Aber nicht wenige meiner westdeutschen Freunde und meist jene, die schon beim Anblick des Schriftzugs von McDonald's der Brechreiz packt, finden die Ex-DDR noch immer ganz toll! Gregor Gysi, sagen die Mädels, sei doch „irgendwie unheimlich erotisch“, die Umgangsformen seien „ganz anders als im Westen“, nämlich ursprünglicher und vom Überfluß nicht korrumpiert, der Mangel an Zentralheizungen werde durch „menschliche Wärme“, wie immer das gehen mag, mehr als wettgemacht. Die DDR-Nostalgiker im Westen wurden auch durch die jüngsten Wahlergebnisse keines Besseren belehrt, im Gegenteil, eine neue Dolchstoßlegende macht sich breit: Was aus diesem Staat, dieser Gesellschaft alles hätte werden können, wenn der Westen nicht interveniert und die arme DDR einfach annektiert hätte!
Ich warte schon eine ganze Weile, daß mal einer aufsteht und mit diesem Unsinn aufräumt, bevor er durch ständige Wiederholung zur Semiwahrheit wird, und die Vereinigung der beiden Deutschlands eine klassische Mesalliance nennt — keine politische Gefahr, sondern eine ästhetische Zumutung. Nun ist mir kürzlich ein kleines Taschenbuch von neunzig Seiten Umfang auf den Tisch gefallen, das Von deutscher Bulimie — Diagnose einer Freßgier heißt und das ich achtlos zur Seite schob, weil mir der Untertitel Vergebliche Streitschrift gegen die deutsche Einheit nicht aufgefallen war. Es ist das Buch, das ich im deutschen Vereinigungstaumel vermißt habe, keine Chronik der laufenden Ereignisse mit Post-factum-Einschätzungen, keine Auflistung der verpaßten Gelegenheiten für einen souveränen zweiten deutschen Staat ohne SED und BMW, keine ausgewalzte Seminararbeit über das definitive Ende der Nachkriegszeit — sondern ein witziges und kluges Pamphlet, das seine Vergeblichkeit von vornherein einräumt, sich selbst ironisch relativiert.
„Wir haben jetzt von Deutschland die Nase voll“, schreibt Joseph von Westphalen am Ende seiner Streitschrift, „wir können das Thema Deutschland nicht mehr hören, es hängt uns zum Hals heraus.“ Denn einerseits ist die Vereinigung „eine plumpe Viecherei und entspricht daher ideal dem plumpen Kanzler, ist die Krönung seines Tölpeltums und seiner Verfressenheit“, andererseits ist „die Furcht vor dem Elend eines Vierten Reiches völlig unbegründet, ein übermächtiges Deutschland ist kaum zu befürchten, eher ein unappetitliches“. Wenn schon eine Vereinigung, dann wäre ihm „eine mit Kamerun zum Beispiel lieber gewesen, das wäre exotischer und farbiger und nicht so elend blond“.
Joseph von Westphalens Streitschrift heißt deswegen Von deutscher Bulimie, weil sowohl bei der deutschen Vereinigung wie bei der Bulimie dieselben Symptome auftreten. Einem „krankhaften Heißhunger“ folgen Anfälle von Übelkeit und Erbrechen. Die Bundesrepublik, angeführt von Kanzler Kohl, dem „Inbild deutscher Unersättlichkeit“, hat die DDR verschluckt, und nun stellen sich, ganz bald nach der Hochzeit des Jahres, die ersten Anzeichen des Überdrusses ein. Allein schon die drei Worte „Deutschland, einig Vaterland“ lösen bei dem Autor einen „fassungslosen Ekel“ aus, die „vereinnahmende Bezeichnung Wir Deutsche“ wird von ihm als „Giftstoff empfunden“, das „Grölen des DDR-Pöbels“ noch im Ohr, stellt er angewidert fest: „Das Volk ist ein Monstrum [...], das Volk ist nur dazu gut, daß man sich aus ihm herauslöst. Das Volk befindet sich morgens und abends in öffentlichen Verkehrsmitteln oder im Autostau; dort bin ich ein Teil des Volkes. Ich bin es nicht gern. Ich kenne niemanden, der es gerne wäre. Es ist eine Zwangsgemeinschaft [...]“
Das klingt nach Nestbeschmutzung, ist wohl auch so gemeint und dabei nichts anderes als eine universelle Wahrheit, die kaum jemand auszusprechen sich traut, weil auch die meisten Nestbeschmutzer gelegentlich ein drängendes Bedürfnis nach Nestwärme verspüren. Wer die Zustände in der Bundesrepublik unerträglich fand, der hatte zumindest die Option, in die DDR gehen zu können. Nur wenige machten von dieser Möglichkeit Gebrauch, aber sie war da, eine Rettungsinsel nicht nur für Terroristen, die eine Zuflucht vor dem Fahndungsapparat des BKA suchten, sondern auch für frustrierte Linke, die von dem Volk, dem sie dienen wollten, schon mal über die Mauer gejagt wurden. Nun, da sich die DDR aus der Geschichte verabschiedet hat, kann die Wahrheit, die ganze Wahrheit über sie enthüllt werden. Sie war, schreibt Joseph von Westphalen mit feinem Understatement, „ein unangenehmer, verschlossener, heimtückisch grinsender, schikanöser, nicht richtig tickender, typisch deutscher Nachbar“ und ihre Einwohner „waren so komisch, auf andere Art gräßlich wie wir, aber weil sie arm und gefangengehalten waren, wagten wir ihnen nicht hinüberzurufen, wie abscheulich verdruckst wir sie fanden“. Jetzt wagt er, jetzt ruft er den ehemaligen Brüdern und Schwestern zu: „Ihr seid das Letzte da drüben! Eure Literatur ist das Letzte! Ich kann das Zeug nicht lesen. Wenn ihr hintersinnig zu sein glaubt, seid ihr nur plump. Ihr kriegt den Mund nicht auf. Eure Kritik ist stumpf. Polemik ist euch fremd. Euer Geschmack ist von Pappe.“ Und er bedauert, es nicht schon früher getan zu haben. „Ich war nicht mutig, nicht taktlos genug, das zu schreiben. Ich habe Rücksicht auf die Mimosenhaftigkeit der DDRler und ihrer westlichen Beschützer genommen [...]“
Joseph von Westphalen, der vom Sommer 87 bis zum Frühjahr 88 im 'Zeit-Magazin‘ einen etwas drögen öffentlichen Briefwechsel mit der DDR-Schriftstellerin Monika Maron führte, schaut ziemlich fassungslos dem eigenen Konformismus hinterher, sein Verhalten sei geprägt gewesen von einer „zwanghaften Doppelkritik“, jeder Bemerkung darüber, „daß der Sozialismus ein unmenschliches System sei“, mußte ein Hinweis auf die Schwächen des Kapitalismus folgen. Von dieser Doppellast fühlt er sich nun befreit. Anders als die meisten Linken, die mit dem Ende der DDR das Ende einer Utopie verbanden, die das sozialistische Experiment, wenn auch modifiziert, gerne weiter am Leben gesehen hätten, findet er, „der Untergang des Sozialismus sollte gerade für Linke ein Grund zum Frohlocken sein“, denn nun endlich könnte „die ganze Angriffslust ungeteilt auf die Wucherungen des Kapitalismus gerichtet werden“.
An dem Gedanken „Die Linke ist die Last des Sozialismus los, jetzt endlich kann sie frei denken“ ist einiges dran, so paradox er auf den ersten Blick auch erscheint. Endlich könnte Schluß sein mit dem gewundenen Rumschleimen, warum man für den Sozialismus als solchen, aber gegen dessen Verwalter sein müsse, was an der Idee gut und an der Ausführung schlecht wäre; endlich könnte man zugeben, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen, daß drüben eine Kleinbürgerbande von verhinderten Kegelbrüdern die Macht ergriffen hat, daß der Sozialismus längst zu einer Spießerideologie degeneriert ist, bei der es kein Zurück zu den ehrenwerten Anfängen geben kann; daß sich nicht Sozialist nennen kann, der es mit Menschenrechten, Naturschutz und freier Sexualität hält...
Wann immer ich so einen Gedanken, eher schüchtern als provokativ, in die Runde warf, schauten mich mehrere Paare empörter Wohngemeinschaftsaugen an, und ich wurde umgehend belehrt: Wenigstens gäbe es drüben genug Kindergartenplätze, keine Obdachlosen, keinen Fremdenhaß, keine Gewaltvideos und keine Pornographie... Inzwischen wissen wir, was alles hinter der biedermännischen Fassade niedergehalten wurde und was in dem Moment losbrach, als der Deckel vom Topf genommen wurde. Auch Joseph von Westphalen war überrascht, was für „reaktionäre Töne“ in der Schlußphase der DDR („Für harte Arbeit hartes Geld“) in die Bundesrepublik herüberschwappten, als „nur noch Fratzen und das Grölen losgelassener Proleten“ das Tempo der Revolution bestimmten, die daraufhin „im Handumdrehen ins Hundsgemeine“ abkippte.
Aber so ist das eben mit Revolutionen, sie sind eine viel zu ernste Sache, als daß man sie dem Volk überlassen könnte, und wo das doch geschieht, da darf man sich über die kläglichen Folgen nicht wundern. Daß den meisten Linken in der BRD zum Exitus der DDR nichts einfiel, obwohl ihnen sonst zu allem was einfällt, daß die Eloquentesten nur noch hilflos „einerseits und andererseis“ stammeln konnten, kam nicht nur daher, daß sie von der Geschichte völlig unvorbereitet getroffen wurden und keine Zeit hatten, sich einen korrekten Standpunkt zurechtzulegen. Sie standen da wie betrogene Betrüger. Ihre liebevoll gepflegte Fiktion hatte sich in Schall und Rauch aufgelöst, und dann wurden sie noch von den Objekten ihrer Projektionen im Stich gelassen. „Macht, was ihr wollt“, dröhnte es den BRD-Linken aus der DDR entgegen, „wir spielen für euch nicht mehr die Grubenhunde. Jetzt holen wir alles nach, was uns vorenthalten wurde, die billigen Bananen, die geilen Videos und das Verhauen von Ausländern!“
Nur so ist es zu erklären, daß ein so unbedarfter Konkursverwalter wie Gregor Gysi plötzlich zum gefeierten „Hoffnungsträger“ der BRD- Linken avancieren konnte, nur weil er den gewohnten Eiertanz fortsetzte und eine Rehabilitation des Sozialismus bei gleichzeitiger Abkehr von der SED-Praxis versuchte. So hatten die BRD-Linken einen Strohhalm, an den sie sich halten konnten, wie die kritischen Katholiken, die vom Papst die Nase voll haben und die Arbeiterpriester Südamerikas anbeten. Wo all die schönen Utopien hin sind, da will man wenigstens bei ein paar faden Illusionen ein wenig Trost finden. Die deutsche Linke hat, von Ausnahmen wie Wolf Biermann abgesehen, die deutsche Vereinigung nicht zum Anlaß einer Tabula rasa genommen. Statt dessen brachte sie die blöde Formel vom „Vierten Reich“ in Umlauf, die weniger eine reale Gefahr als den masochistischen Wunsch nach einer neuen nationalen Katastrophe ausdrückt, mit deren Hilfe die Linke ihr politisches Versagen in einen moralischen Sieg verwandeln möchte.
Woran in diesem Zusammenhang erinnert werden muß, ist die Tatsache, daß auf dem Wege von der „Bundesrepublik“ nach „Deutschland“ ein Teil der Linken die dazugehörige Marschmusik gespielt hat. Man mühte sich um einen „linken Nationalbegriff“, weil man „die Nation nicht den Rechten überlassen“ wollte. Nun, da es zu spät ist, kann nur noch in Wehmut zurückgeblickt werden. „Wir nehmen in Trauer Abschied von diesem Wort: Bundesbürger“, schreibt Joseph von Westphalen, „wir werden uns nach diesem unaufdringlichen Wort noch sehnen, wenn demnächst statt dessen nur noch von den Deutschen die Rede sein wird“, sei es doch wirklich „eine ganz besondere Gnade der späten Geburt gewesen, daß wir nach all der deutschen Tollwut ein paar Jahrzehnte keine Deutschen waren, sondern Bundesbürger [...]“
Joseph von Westphalen: Von deutscher Bulimie — Diagnose einer Freßgier · Vergebliche Streitschrift gegen die deutsche Einheit. Verlag Knesebeck & Schuler, München1990, 87 Seiten, 16,80 DM
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