: Ungarn scheuen Debatte über Antisemitismus
Nach Jahrzehnten des Schweigens ist in manchen Gruppen der ungarischen Gesellschaft wieder offener Antisemitismus aufgetaucht / Für viele Ungarn ist nicht der Antisemitismus, sondern die Diskussion darüber schädlich für ihr Land ■ Aus Budapest Tibor Fényi
Es ist schwierig zu entscheiden, ob in Ungarn in der letzten Zeit die Zahl der Antisemiten oder bloß ihr Mut gestiegen ist; fest steht jedenfalls, daß es sie in der Öffentlichkeit wieder gibt. Der Tonfall mancher Artikel, die in der Zeitung 'Szent Korona‘ ('Die heilige Stephanskrone‘) veröffentlicht sind, erinnert schon sehr an den der 30er Jahre. Auf Anregung des Kulturvereins der Ungarischen Juden hat der Innenminister ein Verfahren gegen die Verantwortlichen eingeleitet. Trotzdem wächst die Zahl der „unbekannten Täter“ an. Unlängst wurde eine Rauchbombe in eine jüdische Konditorei geschmissen, Telefondrohungen gegen religiöse Einrichtungen in Budapest sind an der Tagesordnung. Am empörendsten ist freilich das Attentat, das an der Gattin des Historikers Péter Hanák — der im Herbst letzten Jahres Gastprofessor an der Wiener Universität war — begangen wurde. Einen Tag nachdem der bekannte Wissenschaftler sich mit den verworrenen Ideen über die Beziehungen zwischen Ungarn und Juden auseinandergesetzt hatte, klingelten zwei gut gekleidete Herren zwischen 20 und 30 Jahren an der Hanákschen Wohnungstür in Budapest. Frau Hanák wurde, sobald sie die Tür öffnete, mehrmals mit einem Riemen geschlagen.
Alle diese Vorfälle zeigen die üble Art und Weise auf, wie nach den Jahrzehnten des Schweigens mit Tabus gebrochen wird. Zur Zeit des kommunistischen Regimes war ja selbst das Wort „Jude“ tabuisiert. Das lange Schweigen führte bei einigen Gruppen in der Gesellschaft nicht zu einem Abbau der Vorurteile, sondern eher zum Gegenteil: Jahrzehntealte Ansichten konnten so konserviert werden. Wie groß diese Gruppen sind, welche Vorurteile und in welchem Ausmaß sie verbreitet werden, weiß niemand genau. Eine soziologische Erhebung über diese Frage konnte noch nicht durchgeführt werden.
Doch die Diskussion selbst ist aufschlußreich. Manche sagen, es komme in Ungarn keineswegs zu mehr Abscheulichkeiten dieser Art als etwa in Frankreich, und auch, daß die Juden „auf diese Randerscheinungen“ allzu heftig reagierten. Andere wiederum leugnen schlicht das Phänomen, im Gegenteil gehe vielmehr eine Konspiration gegen die Ungarn vor sich ... Kennzeichnend für solche Meinungen ist ein Leserbrief in der Zeitung 'Magyar Nemzet‘ vom 11. Oktober, worin es heißt: „Gewisse Kreise des Judentums führen, im Besitz der wichtigsten Zentren der modernen Staatlichkeit, Attacken gegen die Magyaren. Im Ausland gelten die Ungarn deshalb als antidemokratisch, chauvinistisch und antisemitisch.“
„Es ist sonderbar, daß es Leute gibt, die nicht den Antisemitismus als Störfaktor im demokratischen Diskurs begreifen, sondern die Tatsache, daß darüber gesprochen wird. Angeblich rückt die Diskussion darüber das Land in ein falsches Licht“, sagt Miklós Szabó, ein Historiker und Experte dieses Problems. Es gibt seiner Meinung nach an der Peripherie des politischen Lebens in Ungarn eine intolerante und konservativ-nationalistische Gruppe, die den Liberalismus und das Judentum miteinander gleichsetzt. „Ihnen gelten Liberalismus und Judentum als Synonyme. Ihr politischer Kampf gegen den Liberalismus ist mithin — bald unausgeprochenerweise, bald aber auch tatsächlich — ein Kampf gegen den ,übertriebenen jüdischen Einfluß‘.“ Laut Miklós Szabó besteht die alte Taktik der Antisemiten darin, zu behaupten, auf diesem oder einem anderen Gebiet seien die Juden „überrepräsentiert“. In Ungarn wird diese Behauptung vor allem auf die Medien bezogen. Dem durch seine extremen Ansichten bekannten Schriftsteller István Csurka zufolge ist die Medienlandschaft z.B. „in Händen einer minimalen Minderheit“.
Die Antisemiten treten häufig sogar als unaufgeforderte Beschützer der Regierung auf. Für Ministerpräsident Antall ist das peinlich. Zwar hat auch er seine Unzufriedenheit mit der Medien schon mehrmals zum Ausdruck gebracht — ihm zufolge steht die Mehrheit der Blätter an der Seite der liberalen Opposition —, seine Kritik basiert jedoch nicht auf dem Antisemitismus; seine Kritik ist Teil des politischen Kampfes um einen stärkeren Einfluß auf die Presse.
Bei der ganzen Diskussion gibt es zwei Fragen, auf die man recht schwer eine Antwort findet. Erstens, wer als Jude zu gelten hat, und zweitens, wer als Antisemit eingestuft werden soll. Die Antwort auf die erste Frage ist deshalb schwierig, weil der überwiegende Teil der Juden in Ungarn als assimiliert gilt. Viele Namen sind magyarisiert, die Nachkriegsgeneration hat weder die hebräische, noch die jiddische Sprache erlent, sie hatte keinerlei Beziehungen zur Glaubensgemeinde, und auch die Zahl der Mischehen ist äußerst groß. Diese Generation begreift sich als Ungarn bzw. als Ungarn jüdischer Abstammung. Kennzeichnend für diese Situation ist es, daß anläßlich der letzten Volkszählung von den schätzungsweise 80- 100.000 Juden nur 500 Personen erklärten, sie seien jüdischer Nationalität. Selbst wenn man annimmt, daß angesichts der Angst diese Zahl nicht unbedingt die Selbstdefinition korrekt widergibt, muß die ungarische Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, daß sich mindestens 90 Prozent der Juden als Ungarn begreifen.
Eben deshalb ist es besonders bestürzend, daß der namhafte Dichter Sańdor Csoóri, der sich früher häufig für Verfolgte und für Minoritäten eingesetzt hat, in einem Artikel erklärte, ein „Verschmelzen“ von Ungarn und Juden sei unmöglich; es ist für ihn offensichtlich negativ, daß „die ungarischen Juden im Parlament ein Trampolin erhalten haben, wie nie zuvor in der Geschichte“, und dies dazu benützen wollen, daß „eine Minderheit die Mehrheit assimiliert“. Der Artikel löste Furore aus. Er hatte auch deshalb besonderes Gewicht, weil der Verfasser neben József Antall zum Kopräsidenten des „Ungarischen Demokratischen Forums“, der Regierungspartei, nominiert wurde (was er jedoch ausschlug), und weil Csoóri zugleich als einer der beliebsten und angesehensten Ideologen der regierenden Partei gilt.
Die namhaftesten nichtjüdischen Schriftsteller, wie etwa Péter Esterházy und Miklós Mészöly haben sich von der Position Csoóris distanziert. Der Gedankengang des Kollegen sei verworren; trotzdem aber möchten viele den Verfasser nicht als Antisemiten abstempeln. In einem Land, wo es jahrzehntelang verboten war, auch nur etwas über diese Frage zu publizieren, kämen notgedrungen auch verzerrte Ideen auf.
Im Zuge einer immer spürbarer werdenden Wirtschaftskrise, eines abwärts gleitenden Lebensstandards und anwachsener Arbeitslosigkeit gibt es auf beiden Seiten nur wenige, die den Konflikt mit Härte ausfechten wollen — ohne die Härte wäre ja die Klärung unmöglich. Trotzdem ist noch unsicher, welche Wirkung der Aufruf des Staatspräsident Arpád Gönz haben wird, in dem er die Ungarn mahnt, die „selbstmörderischen Auseinandersetzungen“ einzusellen.
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