: Machtdemonstration
■ Fallschirmjäger sind in die baltischen Republiken eingerückt
Sicherlich haben die politischen Führungen der nationaldemokratischen Bewegungen in den baltischen Ländern seit 1988 ihre Positionen gegenüber der Zentrale oftmals überreizt. Das allgemein vorherrschende Gefühl, im Einklang mit dem historische Recht zu handeln, hat den kühlen Blick auf die realpolitischen Möglichkeiten manchmal verschwinden lassen. Kompromißbereite Politiker sind vor allem in Estland und Litauen durch die nationalistischen Bewegungen unter Druck gesetzt worden, das politische Fingerspitzengefühl blieb auf der Strecke. Dementsprechend demonstrativ ist der parallel mit der Verabschiedung des Gesetzes über Wehrdienstverweigerung vor sich gehende Aufbau paramilitärischer Truppen in Litauen, die den Kern einer eigenen Armee bilden sollen.
Die Moskauer Entscheidung nun, 10.000 Fallschirmspringer zusätzlich zu den fast 400.000 Rotarmisten in die baltischen Länder zu entsenden, um die Wehrdienstverweigerer in die Rote Armee zu zwingen, trägt dementsprechend ebenfalls die Züge einer Machtdemonstration. Die Dekrete der Republiken zur Wehrdienstverweigerung hat Gorbatschow schon im Dezember wieder außer Kraft gesetzt. Im Windschatten der Golfkrise und vermutlich auch mit dem klammheimlichen Einverständnis Washingtons und der Westeuropäer will er den Unabhängigkeitsbestrebungen eine fühlbare Grenze setzten. Die von ihm und seiner Umgebung früher vorgebrachten Argumente, die einseitigen Unabhängigkeitserklärungen störten den Gesamtprozeß der Perestroika, wurden fallengelassen.
Es ist zu befürchten, daß im Fortgang der Ereignisse der politische Spielraum für Verhandlungslösungen von beiden Seiten verengt wird. Bisher gibt es noch keinen Beweis dafür, daß Gorbatschow von seiner Position, mit Volksabstimmungen in den Republiken einen „geordneten“ Austritt aus der Sowjetunion möglich zu machen, abgerückt ist. Doch könnten die nun provozierten Gegenreaktionen in den baltischen Ländern eine Dynamik auslösen, die ihm Gelegenheit zum Wortbruch geben. Die politischen Eliten in den Republiken wären angesichts dieser Situation gut beraten, in ihren Bevölkerungen für den bisher abgelehnten Gedanken der Volksabstimmung über den Austritt aus der Sowjetunion zu werben. Wäre Gorbatschow tatsächlich an einer Entspannung der Lage gelegen, müßten schleunigst die konkreten Schritte für die Entlassung in die Unabhängigkeit im „Rahmen der Konstitution“ und damit Termine für die Volksabstimmungen angegeben werden. Erich Rathfelder
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