Im Westen nichts Neues

■ Die Politiker pflegen ihre Klientel in den alten Bundesländern KOMMENTARE

Die historischen Stunden sind vorbei. Nun haben die politischen Krämerseelen das Heft in Bonn und in den westlichen Bundesländern wieder fest in der Hand. Das Pathos der Einheit, das für den Wahlkampf gerade noch taugte, ist der ängstlichen Pflege des althergebrachten jeweiligen Klientelismus im Westen gewichen. Die Wahl ist vorbei, die Einheit ist da, bezahlen will sie keiner. Nur so ist das blamable Schlingern des Bundesfinanziminsters zwischen Steuer- und Abgabenerhöhungen zu begreifen. Und die Länderfinanzminister stehen ihm in nichts nach und sitzen kluckenhaft auf ihrem Staatssäckel, damit nur ja keine jahrelang gepäppelten Besitzstände in Gefahr geraten.

Um 25 Milliarden Mark geht es bei den derzeit laufenden Verhandlungen zwischen den Finanzministern. Diese Summe sollen die Westländer zusätzlich aufbringen, um den Aufbau von Verwaltung, Infrastruktur und Wirtschaft in den ostdeutschen Bundesländern zu unterstützen.

Natürlich könnten die Westländer das, sie wollen nur nicht. Schon bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag haben sie mit ihrer Weigerung, die ostdeutschen Länder möglichst schnell in den Länderfinanzausgleich einzubeziehen, ihren West-Egoismus gegenüber den politischen Anforderungen des Einigungsprozesses durchgesetzt. Politische Rhetorik ist das eine, praktische Solidarität das andere.

Erst jetzt wird offenbar einigen Politikern schwindlig bei der Vorstellung, wo sie nun ansetzen sollen, um Mittel für den Einigungsprozeß freizubekommen. Jeder Politiker scheut sich, das Messer anzusetzen. Bestehende Strukturen unverändert weiterzutragen ist allemal politisch ungefährlicher als wem auch immer zugunsten der Einheit Einschränkungen zuzumuten. So wie die westdeutsche Gesellschaft derzeit quer durch sämtliche Lager politisch repräsentiert wird, ist sie zur Solidarität mit der Bevölkerung in den neuen Bundesländern nicht in der Lage, wird sie immer wieder aufs neue auf die Verteidigung ihrer Besitzstände festgelegt. Dies gilt übrigens auch für die in diesem Frühjahr anstehenden Tarifrunden in den alten Bundesländern, die von den Gewerkschaften mit hohen Prozentforderungen eingeleitet werden — bei gleichzeitiger Ablehnung jeglicher „Sonderopfer“. Einzig der Vorschlag des stellvertretenden DGB-Chefs und CDU-Politikers Ulf Fink für einen Solidarpakt versucht — unabhängig von seiner unmittelbaren Praktibilität — politische Wege aufzuzeigen, wie die Menschen in Ost- und Westdeutschland in einen solidarischen Zusammenhang gebracht werden können. Martin Kempe