„Die RAF war für mich eine Form von Ehrlichkeit“

■ So kompromißlos sich Werner Lotze 1978 der RAF anschloß, so kompromißlos rechnet er jetzt mit ihr ab/ Vom schwierigen Versuch eines RAF-Aussteigers, den Schlußstrich zu ziehen/ Belastung anderer RAF-Mitglieder, um „Rechtfertigung fürs Weitermachen“ zu nehmen

Als Werner Lotze am 12. Juli vergangenen Jahres mit dem Hubschrauber bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe einschwebte, war die grundsätzliche Aussagebereitschaft des RAF-Aussteigers aus der DDR dort bereits bekannt. Dennoch überraschte der Beschuldigte Bundesanwälte wie Ermittlungsrichter: Als sie nämlich Lotze förmlich den bundesdeutschen Haftbefehl aus dem Jahr 1986 eröffnen wollten, mochte der sich das gar nicht erst lange anhören.

In dem leicht angestaubten Papier waren ihm die Mitgliedschaft in der Rote Armee Fraktion, ein Banküberfall in Nürnberg und die Beteiligung am Attentat auf den Siemens- Manager Karl Heinz Beckurts im Jahr 1986 vorgeworfen worden. Lotze antwortete ohne Zögern und unter Verzicht auf den Beistand seines Anwalts. Zur Zeit des Mords an Beckurts habe er bereits seit sechs Jahren in der DDR gelebt, die anderen Vorwürfe träfen zwar zu, seien aber wohl eher von untergeordneter Relevanz.

Dann gestand Werner Lotze scheinbar ohne Not seine unmittelbare Beteiligung an einer Schießerei in einem Waldstück bei Dortmund im September 1978, in deren Verlauf sein Genosse Michael Knoll und der Polizist Hans-Wilhelm Hansen getötet wurden. Er selbst habe aus kürzester Distanz den wahrscheinlich tödlichen Schuß in den Rücken des Polizeimeisters abgefeuert. Außerdem habe er zu jenem „Kommando Andreas Baader“ gehört, das im Juni 1979 in Belgien um ein Haar den damaligen Nato-Oberbefehlshaber in Westeuropa und späteren US-Außenminister, Alexander Haig, in die Luft gesprengt hatte. Als Beigabe gab Lotze zu, bei einem Banküberfall in Darmstadt dabeigewesen zu sein, mit dem die RAF im März 1979 ihre zu jener Zeit chronisch leeren Kassen füllen wollte.

Was der Beschuldigte Lotze den Karlsruher Staatsschutzbeamten mitzuteilen hatte, reicht normalerweise allemal für das Standardurteil in RAF-Prozessen: „lebenslänglich“. Daß es dazu nicht kommt, dafür wollen vor dem Obersten Bayerischen Landesgericht nun ausgerechnet jene sorgen, die bisher nicht gerade für besondere Milde gegenüber „aktuellen“ oder ausgestiegenen RAF-Aktivisten bekannt sind. Weil Werner Lotze über die nicht mal eineinhalb Jahre zwischen Juli 1978 und Herbst 1979, in denen er Mitglied der westdeutschen Guerilla-Truppe war, in allen Einzelheiten Rechenschaft ablegte und dabei nicht nur sich selbst, sondern auch andere schwer belastete, soll er nun von der Kronzeugenregelung profitieren.

Generalbundesanwalt von Stahl will — wie in den meisten bevorstehenden Prozessen gegen in der DDR festgenommene RAF-Aussteiger — die Anwendung des umstrittenen Gesetzes „mit Augenmaß“. Praktisch könnte das bedeuten, daß Lotze mit fünf oder sechs Jahren davonkommt — und der realistischen Hoffnung auf vorzeitige Haftentlassung und offenen Vollzug.

Ist Werner Lotze ein Verräter, weil er etwa im Zusammenhang mit dem gescheiterten Attentat auf Alexander Haig die Beiträge der gesamten Gruppe akribisch aufgelistet hat? Wer diese Frage je mit einem donnernden „Ja“ beantworten wollte, wurde spätestens am Abend des 21. November 1990 schwer verunsichert. In einem ausführlichen Fernsehinterview, aufgenommen im Knast von Berlin-Moabit, berichtete der Aussteiger über seinen Weg in die RAF und wieder aus ihr heraus. Nicht die Versicherung, vor seinen Aussagen „mit niemandem einen Handel abgeschlossen“ zu haben machte Lotze glaubwürdig, sondern die bewegende Ernsthaftigkeit mit der der Gefangene vor der Kamera tastend und stockend versuchte, „Vergangenheit zu bewältigen“.

Wenn Werner Lotze sich in seinem Leben für etwas entschieden hat, dann jeweils ohne doppelten Boden: Vor zwölf Jahren ging der damals 26jährige zur RAF, weil er dort die „neuen Menschen“ wähnte, die nicht mehr bestimmt waren von Kompromissen und von den „Lügen, die man im Leben immer eingehen muß“, in einem Land, daß so offensichtlich auf Kosten der Armen dieser Erde lebt. Was die RAF damals machte, nannte Lotze „eine Form von Ehrlichkeit“. Er wußte, daß er bei der RAF Menschen töten würde: „Das war uns nicht egal. Aber wir waren der Überzeugung: Es ist notwendig.“ Eine sehr deutsche Erkenntnis.

Eineinhalb Jahre später empfand Lotze seinen Ausstieg aus der RAF als „persönliche Niederlage“, weil er es nicht geschafft habe, ohne Kompromisse zu leben. Der Schuß in den Rücken des Polizisten Hansen, eine andere Situation kurz vor dem Anschlag auf Haig, die beinahe ähnlich eskaliert wäre, die panische Angst in den Augen der Kassiererin beim Überfall in Nürnberg — diese und ähnliche Stationen seiner RAF-Karriere waren letztlich verantwortlich für den Bruch mit den Genossen.

Im Oktober 1980 setzte sich Lotze zusammen mit seiner Lebensgefährtin Christine Dümlein und mit Unterstützung der noch aktiven RAF über Prag in die damalige DDR ab, wo er seither als Manfred Janssen zunächst in Schipkau, dann in Senftenberg lebte. Er empfand eine Erleichterung, die fast gleichlautend auch andere RAF-Aussteiger beschrieben haben, die damals im realen Sozialismus Unterschlupf fanden — Erleichterung, „in einem Land zu leben, das auf der richtigen Seite stand; in dem Internationalismus und Solidarität erklärte Staatsziele waren“. Lotze und Christine Dümlein, die nun (ausgestattet mit einer von der Stasi überreichten Eheurkunde) seine Frau war, wurden am Tag nach ihrer Ankunft beim VEB Synthesewerk Schwarzheide in Senftenberg angestellt. Er als Kraftfahrer, sie als Sekretärin. Lotze wurde später in der Produktion des Werkes als Ofenfahrer eingesetzt, machte seinen Facharbeiter und arbeitete sich schließlich nach einem Ingenieurstudium zum Schichtleiter hoch. Der RAF-Aussteiger nach heute über zehn Jahren in der DDR: „die besten meines Lebens“.

An dieser Grundeinschätzung des Arbeiter- und Bauernstaats Erich Honeckers änderte offenbar auch nichts, daß die Stasi, die viele Jahre lediglich Berichte zur eigenen „Sicherheitslage“ ihrer Neubürger angefordert hatte, seit 1987 um „erweiterte Mitarbeit“ bat: Versorgungsprobleme, die Stimmungslage in der persönlichen Umgebung und Personen mit „Westkontakten“ sollten „abgeklärt“ werden. Werner Lotze und seine „Frau“ kamen dieser Zumutung nach und interpretierten sie als „Abrundung unserer Tätigkeit bei der Einschätzung unserer persönlichen Sicherheitslage“, jedenfalls als eine „harmlose Berichterstattung“. Den Zusammenbruch der DDR im Herbst 1989 empfand der Schichtleiter Lotze erneut als eine Niederlage, fast so wie zehn Jahre zuvor, als er die RAF verlassen hatte.

Heute glaubt der Gefangene Lotze, daß nur die bedingungslose, auch öffentliche Offenheit, das Gerichtsverfahren, die gesamte juristische Prozedur eine Bewältigung der Vergangenheit möglich machen. Das schließe die Nennung von Namen und damit die Belastung anderer Gruppenmitglieder ein. Alles andere „würde der Gruppe einen Rest an Rechtfertigung lassen, um weiterzumachen“ — keine Kompromisse. Als seine Aussagen, kaum hatte er sie in Karlsruhe zu Protokoll gegeben, schon in der Zeitung standen, war die „Vertrauensbasis“ gegenüber den vernehmenden Staatsschutzbeamten erst mal „weg“. Aber, schrieb der Gefangene an seine Lebensgefährtin: „Wir bleiben bei dem, was wir uns vorgenommen haben.“ Und, in einem ersten Versuch, seiner achtjährigen Tochter die Abwesenheit des Vaters zu erklären: „Die Fehler, die ich gemacht habe, sind zwar schon lange her, aber trotzdem darf ich sie nicht verschweigen oder lügen. Wenn Du mit Mutti über diesen Brief redest, wirst Du verstehen, daß es sein muß, daß ich jetzt im Gefängnis bin. Nun müssen wir auf die Gerichtsverhandlung warten, und dann werden wir wissen, wie lange ich hier sein muß.“ Gerd Rosenkranz