: Zu Gast bei Eduard Schewardnadse
■ Der ehemalige sowjetische Außenminister über seinen Rücktritt, die Krise in der UdSSR und sein Verhältnis zu Gorbatschow DOKUMENTATION
Die Redaktion der 'Moskowskije Nowosti‘ bat ihren Chefredakteur Jegor Jakowlew, Eduard Schewardnadse Neujahrsgrüße zu überbringen. Das dabei geführte Gespräch mit Schewardnadse faßte Jakowlew in der letzten Ausgabe der Wochenzeitung, gespickt mit langen Zitaten des Ex- Außenministers, zusammen.
Schewardnadse betonte, daß seine Rücktrittsentscheidung nichts mit seinem Verhältnis zu Michail Gorbatschow zu tun habe, das im übrigen seit langen Jahren vertrauensvoll sei. Sein Entschluß sei auch nicht Ergebnis einer momentanen Emotion gewesen. Die Gründe lägen woanders:
„Der bisherige außenpolitische Kurs der Sowjetunion hat Früchte getragen, die auf einer Interessenbalance und gegenseitiger Partnerschaft fußen und erste Wirkungen zeigen. Ich habe mich bemüht, niemanden zu täuschen, und ich habe darauf geachtet, daß man auch mich nicht betrügt. Das ist mir gelungen. Doch schließlich bin ich zu folgender Überzeugung gelangt: Sollte sich die Destabilisierung des Landes fortsetzen und der Demokratisierungsprozeß zum Erliegen kommen, dann ließe sich damit auch der bisherige außenpolitische Kurs nicht mehr weiterverfolgen. Die Entwicklung der Ereignisse könnte zu einer Wiederholung dessen führen, was in Tbilissi oder Baku geschehen ist — über was für ein neues Denken läßt sich dann noch reden.
Wenn es nicht gelingt, die Krise zu überwinden, wird eine Diktatur unausweichlich
Natürlich, wir werden wie früher bestrebt sein, die Beziehungen mit allen Ländern auszubauen. Nur, ob unsere Partner das dann noch wollen? Sie können nicht die öffentliche Meinung in ihren Ländern außer acht lassen.
Alle sind sich darin einig, daß das Land in einer Krise steckt — Chaos und Anarchie brechen herein. Und in solch einer Zeit stellen viele die Möglichkeit einer Diktatur in Abrede. Ich dagegen glaube: Wenn es dem Land nicht gelingt, die Krise zu überwinden, dann wird eine Diktatur unausweichlich. Was könnte ein Ausweg sein? Das Volk und die Völker müssen sich wieder zusammenfinden. Und das sollten vor allem die demokratischen Kräfte in Angriff nehmen — um die Demokratie zu erhalten, die Souveränitätsbestrebungen, die heute formuliert werden, zu bewahren und um unser aller Rettung wegen. Dramatisiere ich? Nein, ich glaube nicht.
Immer wieder hören wir heute, Disziplin und Ordnung seien unverzichtbar. Selbstverständlich sind sie unverzichtbar. Nur, bedauerlicherweise verstehen sehr viele unter Disziplin und Ordnung den Einsatz gewaltsamer Methoden. Ich bin nicht davon überzeugt, daß die Präsidialherrschaft und andere Strafmaßnahmen, worauf auch immer sie abzielen mögen, geeignete Mittel sind, unsere derzeitigen Probleme zu lösen.
Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, daß auf dem Hintergrund der Demokratisierung Gewaltakte, Repressalien und Gesetzlosigkeit zulässig werden
Mir fällt es sehr schwer, mich mit dem Gedanken abzufinden, daß auf dem Hintergrund des Demokratisierungsprozesses Gewaltakte, Gesetzlosigkeit und Repressalien zulässig werden. Und wird sich das etwa nicht auch im außenpolitischen Kurs des Landes, im Erscheinungsbild der Sowjetunion niederschlagen?
Mein Schritt zurückzutreten war der denkbar einfachste, vielleicht naiv, aber auf jeden Fall ehrlich: Er sollte die Deputierten zur Vorsicht gemahnen und den Kongreß vor einer wirklichen Gefahr warnen. Leider sah die Mehrheit des Kongresses die Dinge anders.“
Schewardnadse glaubt, der einzige Weg aus der mißlichen Lage des Landes führt über die Überwindung der Tatenlosigkeit. „Vor drei Jahren, während Gesprächen mit einem westlichen Politiker, erhielten wir eine Reihe guter Tips, wie wir unseren riesigen Kaufkraftüberhang, dem keine Waren gegenüberstehen, abbauen könnten: Der Kauf von Eigentumswohnungen sollte erlaubt werden, und die Banken sollten ihre Sparzinsen drastisch anheben. Der Rat wurde sorgfältig geprüft, bis Anweisungen erlassen wurden, ihn umzusetzen. Aber es hat geschlagene drei Jahre gedauert, um die Entscheidung der Zinserhöhung tatsächlich durchzubringen. Dann war es natürlich schon zu spät: Die Leute hatten kein Interesse mehr, ihr Geld zu sparen. Statt dessen suchten sie nach Wegen, ihr Geld auszugeben.“
„Das Problem ist, viele von uns kümmern sich nicht mehr um die praktische Arbeit. Ständig sind wir auf Sitzungen: bei Kongressen, Treffen oder auf Plena, anstatt unsere Entscheidungen auszuführen. Das betrifft Beamte, Minister und sogar den Präsidenten in gleicher Weise. Wir verabschieden Gesetze, die aber nicht implementiert werden. Der Präsident hat zur Zeit die schwierigste Aufgabe: Er war der erste, der einen entschiedenen Anfang gemacht und mutige Schritte unternommen hatte. Aber jetzt steht er unter großem Druck...“
Der Ausweg kann nicht in der Errichtung einer Diktatur bestehen
Die momentane Lebensmittelkrise empfand Schewardnadse als wirklich schmerzlich. „Denn wir wissen, das Land verfügt über genauso viele Nahrungsmittel wie ehedem, nur gelangen die Sachen nicht zu den Menschen. Da sehr viel über Sabotage und Spekulation geredet wird, müssen wir uns mit der Lebensmittelrationierung abfinden. Jeder sollte seine 200 Gramm Butter im Monat garantiert bekommen. Wenn der Staat über keine eigenen Rücklagen verfügt, muß er dafür die ausländischen Kredite nehmen. Dennoch, bisher haben die Menschen von diesen Krediten nichts gehabt. Noch gibt es genug von solchen, die glauben: Je schlechter, desto besser. Der Ausweg kann jedoch nicht in der Errichtung einer Diktatur bestehen, sondern nur, indem wir die elemetare Ordnung im Rahmen von Demokratie und Gesetz stärken.“
Zu seinen persönlichen Plänen für das Jahr 1991 meinte Schewardnadse, er würde gerne eine Gesellschaft ins Leben rufen, die sich mit Fragen der Außenpolitik befaßt. „Es gibt eine ganze Menge interessanter Leute, die sich mit der Analyse und Prognose internationaler Fragen befassen möchten. Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, daß die Ansätze, die wir bis heute zur Lösung sehr schwieriger internationaler Probleme entwickelt haben, auch uns bei der Überwindung unserer eigenen inneren Nationalitätenkonflikte von Nutzen sein könnten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen