Die Menschheit frißt ihre Kinder

Drei Bücher zum Thema Kinder im Krieg  ■ Von Uwe Britten

Das Thema „Kinder im Krieg“ ist in den letzten Jahren geradezu entdeckt worden. Nach mehreren Veröffentlichungen im vergangenen Jahr sind 1990 zwei weitere neue Titel erschienen sowie die Neuauflage eines älteren.

Das Buch Die Kinder in Vietnam von Peter Krebs, das bereits 1984 bei Hoffmann und Campe erschienen ist, gehört im deutschsprachigen Bereich zu den frühen Arbeiten zu diesem Thema. Es ist soeben — mit einem neuen Vorwort versehen — bei dtv neu aufgelegt worden.

Peter Krebs hat als Berichterstatter den Vietnam-Krieg unmittelbar erlebt und mit angesehen, wie 800.000 Kinder zu Halb- und Vollwaisen, wie viele schon früh zu Krüppeln wurden und wie schließlich auch die vielen Neugeborenen nach dem Einsatz chemischer Kampfstofge behindert auf die Welt kamen. Ebenso kennt er die Lage der Kinder, die das Ergebnis der gewollten oder ungewollten Kontakte vietnamesischer Frauen zu amerikanischen Soldaten sind — als „Kinder des Straßenstaubs“ bezeichnet, hatten und haben sie es nicht leicht nach dem Krieg. Und Krebs hat, wie so manche damals, eine der vielen Waisen adoptiert und mit in die Bundesrepublik genommen.

Von dieser eigenen Erfahrung, von dieser Unmittelbarkeit lebt das Buch, das erst Jahre nach dem Krieg geschrieben wurde.

Ohne Frage ist es das Buch wert, neu aufgelegt zu werden. Krebs nämlich gelingt es, das Thema engagiert zu vermitteln. Darüber hinaus stehen auch die Darstellungen der globalen Situation des Krieges und die der konkreten Auswirkungen auf Kinder in einem gelungenen Verhältnis. Die Lage der vietnamesischen Kriegskinder erscheinen immer auch im Zusammenhang der politischen und militärischen Gesamtsituation. Das nötige Hintergrundwissen wird dargestellt, ohne daß Thema des Buches zu überlagern.

Der Vietnam-Krieg war der erste große Medienkrieg, den die industrialisierte Welt miterlebte. Er zeigte auf Knopfdruck die Auswirkungen der modernern Kriegsführung, die immer stärker und skrupelloser die Zivilbevölkerung mit einbezieht. Zu den Opfern gehören fast immer Kinder. Und daß das nicht aufgehört hat, darauf verweist Krebs in seinem Vorwort.

Die verschiedenen Teile Asiens haben eine Reihe schwärzester Kapitel zu dem Thema Kinder im Krieg beigetragen. Nicht nur, daß Kinder immer wieder als Opfer in Kauf genommen wurden, sie sind auch als lebendige Minenräumer vom Iran „eingesetzt“ oder in anderen Ländern schon recht jung zum Kriegsdienst eingezogen worden. Mehr noch war es das kambodschanische Pol-Pot-Regime, das Kinder gezielt zum Töten ausbildete und schließlich sogar zwang.

Ein dazu sehr ähnliches Beispiel hat in den vergangenen Jahren offenbar die in Mosambik operierende südafrikanische Renamo abgegeben. Das Buch Julieta und die Stille des Todes von der Journalistin Beate Müller-Blattau beschreibt diesen „Krieg gegen die Kinder“ ausführlich. Die verschiedenen, meistens recht knappen Kapitel orientieren sich teilweise an den persönlichen Reiseerlebnissen der Autorin, enthalten sind aber auch Berichte aus anderen Quellen, Auszügen aus Reden und Kapitel zur mosambikanischen Geschichte, besonders der Kolonialzeit.

Der Inhalt des Buches kreist hauptsächlich um die Angriffe der Renamo auf ZivilistInnen. Beschrieben wird das kaltblütige Morden, das weder bei Schwangeren noch bei Alten oder Kindern haltmacht. Berichtet wird von der Verschleppung von Kindern in Renamo-Lager, in denen sie meist erfolgreich zu kaltblütigsten Killern gedrillt werden. Zehnjährge, die Neulinge im Lager ins Morden und Foltern einführen. Das Buch hat mich gelegentlich an die Grenze des Lesbaren gebracht. Aber natürlich: Die Berichte beschreiben nur, wie es war.

Etwas spärlich bleiben die gesamtgesellschaftlichen Hintergrundinformationen, die nur in wenigen Kapiteln ausführlicher aufgezeigt werden. Obwohl Beate Müller- Blattau, wie sie schreibt, sehr viele Interviews in Mosambik geführt hat, sind dokumentarische Auszüge eine Seltenheit. Das ist auch deshalb schade, weil es gerade in Mosambik inzwischen Projekte gibt, deren Aufgabe es ist, kriegsgefangene Kinder aus den Renamo-Reihen wieder zu reintegrieren. Hierüber gäbe es sicher Interessantes zu berichten.

Bisher gibt es kein Buch auf dem deutschen Markt, in dem hauptsächlich Kriegskinder oder Kindersoldaten selbst zu Wort kommen. Immer sind es die Worte der Erwachsenen, die über Kinder im Krieg berichten. Am ehesten eine Ausnahme ist da noch das Buch von Roswitha von Benda ...dann werden die Steine schreien, das von den Kindern der Intifada in den von Israel besetzten Gebieten handelt. Den Hauptteil machen drei Geschichten palästinensischer Mädchen aus, die von ihren Erfahrungen in der Intifada erzählen. Allerdings wird auch bei diesen 120 Seiten nicht deutlich, ob die in der Ich-Form erzählten Erlebnisse von der Autorin mitgestaltet wurden oder ob sie völlig authentisch sind.

Über die Kinder der Intifada ist schon viel geschrieben worden: über das heimliche Verhaften ohne Information der Eltern und ohne Anwälte, über die Kindergefängnisse, über die Vehörmethoden und die erzwungenen Geständnissse, die dann auf Hebräisch verfaßt werden, eine Sprache, die fast kaum ein palästinenisches Kind spricht.

Wichtiger als das Berichten von der steinewerfenden Jugend und den bewaffneten Soldaten ist in Roswitha von Bendas Buch der Einblick in das Denken und Fühlen der Jugendlichen und Kinder. Das nämlich vermitteln die Geschichten von Raiha, 16 Jahre alt, von Schuruk, 15 Jahre, und von Sahar, 17 Jahre und christliche Palästinenserin. Sie erzählen von ihren Erlebnissen und Erfahrungen in der Intifada, die am 9.Dezember drei Jahre dauert, und sie erzählen Teile ihrer Biographien.

Das Leben dieser Kinder setzt sich offenbar aus drei zentralen Bestandteilen zusammen: aus dem Bewußtsein, seit der Geburt als Flüchtlinge in Lagern zu wohnen, während gleichzeitig die älteren Generationen von der alten Heimat Palästina erzählen, und schließlich das tagtägliche Erleben der Erniedrigung durch die Israelis, die ihnen jede Würde abspricht. Das erklärt wohl auch, warum diese Kinder so lebhaft von den Heimatorten ihrer Großeltern erzählen und diese idealisiert zum Gegenmodell des Lebens in den besetzten Gebieten werden.

Die Jugendlichen berichten aber auch vom täglichen Kampf um Bildung, da die palästinensischen Schulen und Universitäten von den Israelis geschlossen wurden, und von ihren Aufgaben in den vielen „Komitees“ zur Erhaltung und Weitergabe von Bildung, Gesundheit, Lebensmittelherstellung etc.

Neben den drei persönlichen Berichten enthält das Buch auch zahlreiche Briefwechsel zwischen palästinensischen und jüdischen Jugendlichen, die durch die deutsch-arabische Schmidt-Schule in Jerusalkem initiiert wurden; außerdem eine „Chronik des jüdisch-palästinensischen Konflikts“, die einige von den nötigen Fakten nachliefert. Alles in allem ein für das Verstehen des palästinensischen Denkens und Fühlens wichtiges Buch.

Das Veröffentlichen solcher Bücher wird keine Kriege verhindern. Ähnlich schreibt es auch Peter Krebs in dem Vorwort zu der Taschenbuchausgabe seines Buches. Er sieht vor allem, daß sich nach den Erfahrungen des Vietnam-Kriegs nichts zum Besseren verändert hat, eher im Gegenteil, die Einbeziehung von Kindern in Kriege hat zugenmommen. Dafür aber zu sensibilisieren und diese Entwicklung zu stoppen, das zumindest könnten diese Bücher mit forcieren. Denn wenn nicht die extremste Funktionalisierung von Kindern, ihr Töten und Töten-Lassen, beendet wird, dann hat sich die Menschheit selber aufgegeben.

Peter Krebs: Die Kinder von Vietnam. Eine Bilanz modernen Kriegs, München 1990, 9,80DM

Beate Müller-Blattau: Julieta und die Stille des Todes. Mosambik: Vom Krieg gegen die Kinder, Reinbek bei Hamburg 1990, 9,80DM

Roswitha von Benda: ...dann werden die Steine schreien. Die Kinder der Intifada, München 1990, 28DM