: Choreographien von Sachen
■ Jan Kubicek — eine Ausstellung in Friedberg
Fast prototypisch entspricht Jan Kubicek der westlichen Vorstellung eines tschechischen Künstlers der Gegenwart. Seine Bilder sieht er als gewählte Möglichkeiten aus einer Vielzahl weiterer Lösungen, die gleiche Schlüssigkeit beanspruchen können; Dogmatismus liegt ihm fern. Eines der zentralen Anliegen seiner künstlerischen Arbeit ist die Erweiterung des traditionellen Rezeptionsvorgangs: Ein Bild kann nicht nur angesehen und verstanden werden, sondern das Bild ist auch Teil einer Kommunikationsreihe von weiteren Bildern, mehrere Bezüge innerhalb dieser Form-Aktionen sind möglich, Hierarchien bleiben außen vor. Die Bildmittel der konkreten Kunst zur Darstellung nichthierarchischer Beziehungen zu nutzen, diese Forderung wurde von Richard Paul Lohse in den vierziger Jahren aufgestellt und zeitgleich mit seinen Farbreihen erstmals verwirklicht. Kubicek gelangt durch Verwendung durchbrochener Kreise, deren Segmente systhematisch auf mehrere einander zugeordnete Bilder verteilt werden, zu formal völlig neuen Lösungen des schwerpunktfreien Bildes. Lösungen, die neben weiteren Werkgruppen noch bis zum 24.3.1991 in der Friedberger Galerie Hoffmann kennengelernt werden können.
Jan Kubicek wurde 1927 in Kolin geboren, jener mittelböhmischen Industriestadt, die Kennern der tschechoslowakischen Avantgarde durch die Fotografien des in den zwanziger Jahren erbauten Kraftwerks, das Jaromir Funke zur Grundlage seiner diagonalen Kontrakompositionen nahm, bekannt ist. Nach einer künstlerischen Ausbildung an Hochschulen und Akademien gelangte er nicht durch Kenntnis des Konstruktivismus zur konkreten Kunst, sondern durch die allmähliche Reduzierung von Bildelementen, die aus Decollagen gewonnen wurden. Übrig blieb aus diesen Decollagen der Großbuchstabe „L“, den Kubicek als rechten Winkel (linear) oder zwei rechtwinklig angeordnete Rechtecke (flächig) begriff und zum Ausgangspunkt seiner konkreten Konstruktionen machte. „L“-Formen wurden mehrfach übereinander geschichtet und auf die Spitze gestellt, die Formen erhielten Zeichencharakter. Die Umsetzung der Wandobjekte in dreidimensionale Standobjekte ging — parallel zur Entwicklung der Kunst westlicher Länder — mit der Entdeckung der Kunststoffe durch die Künstler einher, Plexiglasdurchdringungen und -schichtungen wurden bis zum Ende des Prager Frühlings in Ost wie West ausgestellt.
1968 war für Jan Kubicek die Möglichkeit von Ausstellungen, die Information über die Entwicklung konkreter Gestaltung in der Welt auf ein Minimum beschränkt, die Ausstellungsmöglichkeit im westlichen Ausland wurde ganz kapitalistisch vom Garantieertrag an Devisen abhängig gemacht, und schon zuvor bestimmten staatskonforme Künstler, was überhaupt das Prädikat „Kunst“ verdiene. Kubicek wollte diesen ideologischen und ökonomischen Forderungen nicht nachgeben, über fast zwanzig Jahre wurde der Lebensunterhalt durch die Illustration von Kinderbüchern gesichert, an die Stelle der künstlerischen Produktion trat die Reflexion über künstlerische Produktion. Mit leichter Melancholie kommt Kubicek heute auf die Bilder zu sprechen, die er noch alle „nachmalen“ müßte, zu fast allen Überlegungen liegen zahlreiche Skizzen, aber nur wenige Bilder vor.
Wobei noch diese Bilder, die zusammengenommen so etwas wie eine kleine Retrospektive ergeben, Vorläufer für ganz andere Konstrukte, visualisierte Überlegungen sind, in vielem der Konzeptart, bei der die Realisation bekanntlich hinter den Gedanken zurücktritt, verwandt. Bei Geteilte Kreise und Halbkreise von 1989 werden etwa gleichzeitig verschiedene Bildrichtungen, geometrische Grundformen und Positiv-Negativ-Formen mit minimalen Mitteln thematisiert, der Erkenntnisprozeß, der durch die Bilder initiiert wird, ist ein allmählicher, immer wieder durch andere mögliche Bildlesarten gestörter Lesevorgang. Die Gesamtheit der Bildelemente ist Bedingung für diese Irritationen, genau durch diese Irritationen wird das Bild auch zu mehr als der Summe seiner Teile, führt zum permanent möglichen Blickwechsel, der aber nicht in völliger Orientierungslosigkeit endet, sondern zu dem, was Jan Kubicek, auf die Bildelemente bezogen, Choreographien von Sachen nennt. Jörg Stürzebecher
Ursula Wenzel
Jan Kubicek in der Galerie Hoffmann, Görbelheimer Mühle, 6360 Friedberg (06031/2443), Dienstag bis Donnerstag und Sonntag 11 bis 19Uhr, bis 24.3. (bis 8.1. geschlossen)
Ein Faltblatt mit mehreren Abbildungen und einem Text von Jiri Valoch sowie eine Edition Progression — Degression als Siebdruck (100 Exemplare, numeriert und signiert) sind lieferbar.
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