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Sowjettruppen in Vilnius in Aktion

■ Fallschirmjäger-Einheiten besetzen das litauische Verteidigungsministerium und das Pressehaus Ein Toter und fünf Schwerverletzte/ Tausende Menschen schützen das Parlamentsgebäude

Moskau, Vilnius (dpa/taz) — Sowjetische Fallschirmjäger-Einheiten haben im Verlauf des Freitags in Vilnius das litauische Verteidigungsministerium, in dem sich das Kommando der litauischen Landwehr befindet, und das Presse- und Verlagshaus besetzt. Sie haben ferner den Fernsehturm der Stadt umstellt. Bei der Okkupation des Pressehauses wurden ein Mitarbeiter getötet und fünf weitere schwer verletzt. Wer nicht freiwillig gehen wollte, wurde mit vorgehaltener Maschinenpistole arretiert. Bei der Besetzung des Verteidigungsministeriums wurden von den sowjetischen Truppen Warnschüsse gegen das Gebäude abgefeuert. Die Angehörigen der Landwehr, einer nur mit Holzknüppeln ausgerüsteten Freiwilligentruppe, wurden mit Tränengas von ihren Arbeitsplätzen vertrieben. In den letzten Tagen hatte das sowjetische Verteidigungsministerium mehrfach versichert, einzige Aufgabe der nach Vilnius verlegten Fallschirmjäger sei es, nach Litauern zu fahnden, die sich den Gestellungsbefehlen zur sowjetischen Armee entzogen hatten.

Im Zentrum von Vilnius hatten sich am Freitag nachmittag Tausende von Einwohnern vor dem Parlament versammelt, um mit einem Menschenwall zu verhindern, daß das Gebäude von Anhängern der prosowjetischen Gruppen „Interfront“ und „Jedinstwo“ (Einheit) gestürmt wird. Etwa tausend Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung hatten bereits die Nacht vor dem Parlament verbracht, im Sitzungssaal selbst hielten sich zahlreiche unbewaffnete Mitglieder der Landwehr auf.

In den von der Sowjetunion direkt geleiteten Betrieben Litauens, in denen die russischen Arbeiter die Mehrheit bilden, fanden am Donnerstag zahlreiche Warnstreiks gegen die Regierung statt. Auch das Flughafenpersonal des Flughafens von Vilius und die Angestellten von Aeroflot traten in den Streik, so daß der Flugbetrieb lahmgelegt wurde. Am Freitag morgen waren etwa tausend mit Bussen herbeigeschaffte prosowjetische Demonstranten vor das Parlament aufmarschiert, verzichteten aber angesichts der großen Zahl der Sajudis-Anhänger auf die Wiederholung des Versuchs, in das Gebäude einzudringen.

Bereits am Donnerstag hatte das litauische Parlament die Aufforderung Gorbatschows zurückgewiesen, der sowjetischen Verfassung und den sowjetischen Gesetzen wieder Geltung zu verschaffen. In einer von Präsident Landsbergis eingebrachten Erklärung wird festgestellt, daß auf dem Boden Litauens nur litauisches Recht gültig sei. Gorbatschows Forderungen zu erfüllen, würde auf die Anerkennung der Okkupation Litauens durch Stalin hinauslaufen. Landsbergis wandte sich an die westlichen Regierungen mit der Bitte um Unterstützung. Der sowjetischen Regierung wurden erneut Verhandlungen über die Unabhängigkeit vorgeschlagen. Das Parlament wählte den 41jährigen Ökonomen Schimenas mit 78 Stimmen bei einer Gegenstimme und 29 Enthaltungen zum Nachfolger der zurückgetretenen Ministerpräsidentin Prunskiene. Schimenas, der Sozialdemokrat ist und der gemäßigten Zentrumsfraktion angehört, will mit allen Unabhängigkeitskräften zusammenarbeiten, darunter ausdrückklich auch mit der unabhängigen (post)kommunistischen Partei des bisherigen stellvertretenden Ministerpräsidenten Brazauskas.

In Moskau hatte der aus Litauen stammende Funktionär der KPdSU Burokiavicius am Donnerstag gefordert, das litauische Parlament aufzulösen und zum Präsidialregime überzugehen. Der stellvertretende Chef der prosowjetischen litauischen KP, Schwed, stellte das Scheitern des Reformprogramms der Regierung fest und forderte deren Rücktritt und die Selbstauflösung des Parlaments. Die sowjetischen Zeitungen druckten am Freitag nach bewährter Manier Briefe litauischer Werktätiger, in denen die „Separatisten“ angegriffen werden und Gorbatschow ersucht wird, „die Heimat zu retten“.

Auch nach Estland wurden entgegen ausdrücklichen Zusicherungen am Freitag Luftlandetruppen verlegt. Ein Sprecher der estnischen Regierung teilte mit, daß unter der russischen Bevölkerung Estlands derzeitig Freiwilligenverbände aufgestellt würden, denen große Mengen von Waffen und Munition zur Verfügung stünden. Der Sprecher sagte, er nehme nicht an, daß die Luftlandeeinheiten nur passive Beobachter der Ereignisse wären. „Die Präsenz der Truppen bedeutet nichts anderes als den Beginn der unmittelbaren Konfrontation mit Moskau.“

Die Europäische Gemeinschaft hat ebenfalls am Freitag an die sowjetische Führung appelliert, die baltischen Republiken nicht einzuschüchtern. „Die EG und ihre Mitgliedstaaten“, so heißt es in der Erklärung, „hoffen, daß die Sowjetunion so bald wie möglich Verhandlungen mit den gewählten Vertretern der baltischen Republiken aufnimmt.“ Den legitimen Ansprüchen der baltischen Völker müsse entsprochen werden. C.S.

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