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Eingestaubter Zirkuszauber

■ Mit »La Femme 100 Têtes«, einer Operncollage nach Max Ernst, wurde in der Neuen Nationalgalerie die Reihe »Schauplatz Museum« eröffnet

Max Ernst veröffentlichte 1929 den Collageroman La femme 100 têtes. Schon der Titel ist, spricht man ihn aus, mehrdeutig. Wie der Max-Ernst-Forscher Werner Spies rekonstruiert hat, wird aus der »cent têtes«, der hundertköpfigen Frau, »sans tête«, die kopflose Frau, und »s'entête«, die Frau, die ihren Kopf hat, die Starrsinnige; mit ein bißchen Phantasie schließlich noch eine »femme sang tête«, die blutsaugende Frau, ein Vampir. Man bewegt sich mitten in einem psychoanalytischen Kriminalroman. Nichts weniger als ein surrealistisches und psychoanalytisches Stück mußte es sein, mit dem die Zuschauer erbaulich »in die unentwirrbare Genauigkeit der Zeit, in der wir leben« versetzt werden sollten. Zur Eröffnung der Veranstaltungsreihe »Schauplatz Museum«, stellten die Argentinier Jacobo Romano und Jorge Zulueta ihre 1968 erstmals aufgeführte Operncollage nach Motiven von Max Ernst in der Neuen Nationalgalerie vor.

Die Aufführung beginnt mit einer virtuosen Klavierdarbietung Zuluetas. Er spielt Kompositionen von George Antheil, dem Verfasser einiger von Max Ernst inspirierter Klavierstücke und Gesangsarrangements, in denen sich Elemente von Rachmaninoff und Ravel mit Ragtime und Boogie-Einlagen verbinden. Formal soll dies der Collagetechnik des Surrealismus entsprechen; wenn es der Zuhörer nicht glaubt, wird er, wie es eine Anekdote über ein Antheil-Konzert erzählt, gewaltsam dazu gezwungen. Mit einem Revolver bewaffnet, betritt eine Tänzerin die Bühne und bedroht das Publikum. Es lösen sich aber keine beliebigen Schüsse, wie sie Breton in seinem »Surrealistischen Manifest« auf den unbeteiligten Massenmenschen abgeben wollte. Kaum hörbar ist das Aufschlagen des Pistolenhahns, eine bezeichnende Fehlleistung. Zum Zuhören muß nicht gezwungen werden, die meisten fühlen sich gut unterhalten. Von dieser Mischung aus Varieté, privatem Diaabend, US-amerikanischer Pseudoavantgarde, rhythmischer Sportgymnastik und Richard Wagner, schlicht: von einer Oper auf der Höhe der heutigen Zeit.

Eine Verbindung zu Max Ernst stellt eine Diaprojektion seiner Bilder sicher, deren Titel durch Maike Pansegrau (Sopran) vorgestellt werden. Die Anordnung der Collagen in Ernsts Publikation wird dabei aber ignoriert. Die Bilder werden umbenannt und erscheinen eher als Nebensache, bilden ein Panorama des Unbewußten ihrer Interpreten: Die Sopranistin erkennt den sie begleitenden Klavierspieler Antheil auf den Collagen wieder und sieht in ihnen die Wagner-Themen ihrer Arien bebildert. Mit dem Satz: »Die Weltgeschichte des Fürsten Ernst kommt zu Ende, alle sind tot«, endet die Diaschau und die Collagen werden zu lebenden Bildern. An die Stelle der bedrohlich wirkenden Arrangements Max Ernsts, der seine Figuren aus Mythologie und Kunstgeschichte in holzstichartige Reproduktionen klassischer und realistischer Bildillustrationen versetzt, tritt die Übersetzung der surrealistischen Konstellation in gespielte Szenen: Blindheit wird durch ein unterhaltsames Verbinden der Augen vorgeführt oder die Beliebigkeit des menschlichen Hin und Her in ein Billardvergnügen übersetzt.

Ernst rekonstruierte aber keinen willkürlichen Kontext, sondern arbeitete künstlerische Konfliktsituation auf. Die Überfülle der Träume, die er reproduziert, wird psychoanalytisch einem Prozeß der Wiederholung und der Bearbeitung ausgesetzt, der die verführerischen Versprechungen von Trauminhalten und Wahnzuständen nicht schon selbst für die Lösung hält. Auch hierin versucht sich die Inszenierung, wenn sie die Struktur der Wiederholung aus Ernsts Roman kopiert. So wie dort das erste Bild des Zyklus »verbrechen oder wunder: ein vollständiger mensch« auch sein letztes ist, beginnt das Spiel der Gruppe nach einer guten Stunde wieder von vorne.

Der Themenvielfalt der Collagen wird dabei nicht entsprochen. Es bleibt bei einer unterhaltsamen Mischung, in der die Zauberkunststücke und Taschenspielertricks einer der Lieblingsfiguren Ernsts, des Taschendiebs Rocambole (José Luis Barreto) den roten Faden bilden: Psychoanalyse soll funktionieren wie Zirkusmagie. Dagegen fehlt jegliche Bearbeitung der zentralen Zitatkontexte Ernsts: der Hysterie, der französischen Revolution, der Ikonenmalerei und der Kosmogenien. Nicht aufgeführt wurde auch die von Max Ernst vorgeschriebene erotische Spannung, die durch das Zusammentreffen des unterschiedlichen Bildmaterials entstehen soll. Reichlich Möglichkeiten für ein großes Musiktheater, wie es Zulueta und Romano vorhaben (»Wort, Musik, Tanz, Plastik, Bild und Film« sollen in der Konzertcollage »der Veranschaulichung einer neuen Wirklichkeit dienen«) existieren; künstlerische Mittel, die hier aber allesamt nur angedeutet sind.

Warum ausgerechnet diese Inszenierung der argentinischen Gruppe den Bezug zum Museumsobjekt Max Ernst herstellen soll, wird nicht recht klar. Von der in der Neuen Nationalgalerie ausgestellten Ernst-Plastik »Capricorne« ergibt sich keine zwingende Verbindung zum Collageroman, wie es eigentlich der Sinn dieser Inszenierung im Museum sein soll.

Zum Zeitpunkt ihrer Uraufführung konnte die Komposition noch als Revolte gegen die allzustrenge Formfixierung der seriellen Musik verstanden werden. Aus heutiger Sicht ist die Rückkehr zu den künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten der Oper jedoch nur ein Motiv der musikgeschichtlichen Weiterentwicklung geblieben. Eine Reaktion auf eine zentrale surrealistische Frage Bretons stellt gerade sie nicht dar: »Hängt die Mittelmäßigkeit unserer Welt nicht wesentlich von unserer Aussagefähigkeit ab?« Thomas Schröder

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