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Damals, bevor die Barbaren kamen

■ Vorwärts nimmer, rückwärts immer — Aus der Chronik eines Prenzlauer Berger Dorfmusikers

Im Anfang war unser Dorf. Es hieß Prenzlauer Berg, war umgeben von vielen anderen, für uns unbedeutenden, Ansiedlungen. Die letzten Milchkühe wurden vor 50 Jahren in den Schlachthof getrieben. Kein guter Ort fürs Leben, sagten viele, das Klima viel zu rauh. Deshalb war es für uns ein guter Ort und auf die Frage »Was tun?« kamen seltsame Antworten. Dorfmusikanten gab es auch, die spielten selten auf der Tenne, Erntedankfeste fielen regelmäßig aus. So saßen sie meist in ihren selbstgebastelten Höhlen. Irgendwann sind sie vom Stammtisch der Musikfreaks, Posterdealer und Plattenschieber aufgestanden, der beim samstäglichen Dorfvergnügen immer links neben der Bühne stand. Aufgestanden mit dem festen Entschluß, sich von nun an bewundern zu lassen. In richtigen Städten nennt man solcherart Aufrechte wohl Boheme. Bei uns auf'm Dorf warens so wenige, daß wir sie alle mit Namen kannten.

Der Lärm, den sie veranstalteten, drang so manches Mal bis ins Gutshaus. Da fragte der Herr schon seine Vorarbeiter, was das denn sei, wer das denn sei. Hatten diese einen guten Tag, entgegneten sie: Narren und Kinder. Dann ließ der Herr sie gewähren, waren doch diese vor Gott nicht für ihre Taten verantwortlich. An schlechten Tagen aber hieß es: Ketzer, die wider die göttliche Ordnung trommeln. Dann war der Zorn groß und Strafen gewiß. Das war der Zustand vor der Klimakatastrophe. Wir alle haben damals gedacht: endlich schönes Wetter bis weit in den Herbst hinein.

Alle sahen glorreichen, herrschaftsfreien Zeiten entgegen

In diese hoffnungsschwangeren Wochen fällt der Einzug einiger Dorfmusikanten in das alte Haus. Sie nannten es »Im Eimer«. Alle sind auf der Suche nach irgendwas. Nur wenige wissen, was sie suchen. Probenräume, eine Bühne, einen Schankraum. Der Einzug findet statt. Der Rest ist Arbeit. Der Rest ist ungeheuerlich. »Die Firma« entrümpelt die Katakomben, die »Ichfunktion« tapeziert, »Freygang« deckt das Haus. Im Frühling ist der Klimaumschwung für alle schon deutlicher zu spüren. Rheumatische Beschwerden und Asthmaanfälle häufen sich. Im Frühsommer schließlich der Aufruf zum Tanz auf dem Vulkan. Die letzten Tage von Pompeji. Die Musikanten stehen auf der Tenne, graue Gesichter. Wir trinken dunkle Flüssigkeiten. Wir zahlen das letzte Mal mit Glasperlen für unser Feuerwasser. Nebem dem Eimer wird Splitt breitgewalzt für einen Autohof. Wir pissen den Baufahrzeugen an die Räder, doch das Gummi aus gutem Öl zersetzt sich nicht schnell genug. Drei Tage sind einfach zu wenig. Und nur drei Tage vor diesen drei Tagen die Idee für die drei Tage. Aber sie sollen uns erhalten bleiben, wenigstens auf Vinyl. Ein Dokument, das späteren Generationen Zeugnis geben soll: So haben wir gelebt im Dorf, bevor die Barbaren kamen.

Der Mitschnitt erscheint bei Peking Records, dem Label, daß Rex für die erste »Herbst in Peking«-LP aus der Taufe hob, ganze fünf Wochen später.

Verhör bei Radio 100

Vertreter aller drei an der Platte beteiligten Bands tanzen durch das Studio. Rex stellt die alles entscheidende Frage: »Sag mir, wo du stehst«. Und sie stehen bei Null. Ihre Gegenwart sind sieben Demark in der Tasche, ihre Zukunft sind sieben Demark in einer anderen Tasche. Sie kennen sich nun seit acht Jahren, machen zusammen Konzerte und anderen Blödsinn. Die Platte sei die Konsequenz. Und ihre Antwort auf den Oktoberklub, dieser ostdeutschen Rache an der Beatmusik. Für die drei Bands sind »Die letzten Tage« ihr Vinyl-Debüt. Freygang gibt's seit 13 Jahren, Die Firma seit 8. Auch die Ichfunktion spielt schon einige Zeit. Klarer Fall: »Wir waren nicht tragbar. Haben das sozialistische Zusammenleben gestört.« Und Pohl (Freygang) hatte spätestens seit 1986 »Spielverbot auf Lebenszeit«. Hat sich nicht an die amtliche Verfügung gehalten, der Schlingel der! Tourte weiterhin mit der Firma rum. Besitzt sogar die Frechheit, die FDJ zu linken. Verkauft Freygang unter falschem Namen (»Okay«) für ein Gastspiel an der Erdgastrasse. Mit einem angeblichen Hartmut-König-Repertoire täuscht er die Abgesandten Hartmut Königs. Die setzen ihn dafür ins Flugzeug. Schöne Tage in Sibirien. Das war 1987. Die Firma spendet ihre Zeit derweil in Polen. Wandern, Kanu fahren, auftreten. Der Glamour-Rock der Zone drängt nach Westen, sie fahren gen Osten, der Sonne entgegen. Und die Ichfunktion? Die wartet nun auf 68, denn nach Einführung des Erhardschen Wirtschaftswunders im Zonenrandgebiet dürfte es nach vorläufigen Prognosen, wenn alles gut geht, 1998 soweit sein. »Wir leben in der Phase des weltweiten Übergangs von Herbert Roth zu den Rolling Stones.« Das macht stolz.

Schließlich wird noch das Gemeinsame zwischen Freygang und »Silly« beschworen. Pohl und Tamara wagten es beide, das Zauberwort auf der Bühne auszusprechen. Pohl wurde dafür von Polizisten hinwegsortiert, Tamara hat damit die Wende eingeleitet. Das Zauberwort hieß »Ficken«. Von Heiner Müller erfahren wir, warum es die Wende herbeigeführt hat. »In den Büros, an den Schreibtischen ist Ficken eine hochgradig subversive Tätigkeit.« Wahr und tapfer gesprochen, Heiner! Doch angefangen hat es, wie so vieles, mit dem Oktoberklub. Der sang damals: »Wir haben ein Recht darauf, dich zu erkennen...«. Doch die Jungs waren damals leider nicht radikal genug. Ende der Sendung.

Treffpunkt bleibt Treffpunkt

Während der Eimer bis zum endgültigen Einbau funktionstüchtiger Wasserklosetts ein Wartehäuschen bleibt, ziehen die Stämme musicoholisierter Stadtnomaden durch die übriggebliebenen und neubegründeten Klubs und Kneipen. Übriggeblieben: der C29, gegenüber dem »Babylon«. Eine Kochnische für Musikanten, oben Barbetrieb, unten im Keller Verstärkergedröhn. Freygang probt hier ab und an, »Lehmann« auch und »Oh Yeah Crap«. Des weiteren mehrere No-name- Combos, die auf ihren Geburtstag warten. Eigentlich geht es dem Club jetzt schlechter als vorwendisch, meint Sascha. Sie sind weg von der »Kultur«, hinübergeglitten zu »Jugend/Familie/Sport«. Noch mehr Bürokratie als bisher. Und komische Vorstellungen haben die dort im Dezernat. Wollen so 'ne Art Jugendfreizeitheim installieren, Kids von der Straße locken und so. Kein Alkohol, no drugs. Das wär' der Tod. Ist eh schon schwierig, den Laden vollzukriegen. Selbst bei den Bands, die mit schöner Regelmäßigkeit freitags und samstags aufbauen. Günstige Citylage? Ja, vor allem für die Skinheads, die an den Fußballtagen die Straße zum Alex als Einflugschneise benutzen und gern mal im Club vorbeischauen. Für den Tag darauf bestellen wir vorsichtshalber schon mal den Glaser. Absagen kann man ja immer noch. Solidarität unter den Klubs? Geht mittlerweile gegen Null. Die »Sophie« will uns ihren alten Tresen verkaufen, den sie vielleicht selbst nie gekauft hat. Denn das Geld kam doch eigentlich immer von der Stadt. Wenn das mal nicht die Marktwirtschaft ist: viermarkfuffzig für ein schnödes Weizenbier erheben sie in der Sophie, dabei verdient doch kein Schwein im Osten jetzt einen Pfennig mehr.

Überhaupt: die Szene ausnehmen. Das können fast alle ganz gut. Tatort »Café Westphal« am Kollwitzplatz. Erst hieß es noch: »Gemeinsam — Wir für Euch«. Heute weiß jeder, der hingeht, daß er in einem Abstauberladen sitzt. Und geht wieder und wieder hin. Treffpunkt bleibt Treffpunkt. »Die Art« bevölkert das Hinterhaus, Radio P, der Kiezsender, hat anscheinend einen Vertrag mit der Theke. Das Westphal ist der einzige Laden, in dem der Sender immer eingestellt bleibt. Da passieren dann die aberwitzigsten Sachen. Pohl zu Rex: »Hör dir mal diese Kassette an.« Pohl verschwindet zwei Straßen weiter, nach zehn Minuten läuft der Song im Radio.

Das einzig wirklich Neue im Kiez bleibt dann wohl nur das »Tacheles«. Internationales Kulturzentrum, da hängen die Typen ab, mannohmann. Bands im Café, Straßenmusikanten, Performances, seit kurzem: Housepartys zum wegtanzen.

Traue niemandem, dessen Wiege in Hamburg oder München stand

Schnell noch einen Blick in die Peripherie, die furchtbar zentristischen Zeiten sind ja nun wohl endgültig dahingegangen. Treptow, das ist doch da, wo der Südstaatler immer einfuhr in die Hauptstadt. Vorbei am S-Bahnhof Adlershof, Fernsehzentrale. Da steht ein Haus, das heißt »Come In«. Sinniger Name für den vormaligen Kulturladen der Stasi. Und jetzigen Veranstaltungsort von »X-Mal! Musik zur Zeit«. Bands aus Engeland und Amiland spielen dort, oftmals vor leeren Stühlen.

Ebi Fischel: »Zu weit draußen. Zu starke Konkurrenz von Westberliner Läden, Loft, Metropol, XTC. No future.« Auch auf der Treptower Insel gibt's x-Mal Konzerte. Kleinerer Rahmen, etwas gemütlicher. Aber auch hier Hickhack um die Fortpflanzung: Bleibt der Klub oder wird er geschaßt, bleibt die Unterstützung vom Stadtbezirk oder wird sie gestrichen. Da ist kein freudiges Arbeiten möglich, inmitten motivationstötendem Orgstresses. Das andere Standbein heißt für Ebi Fischel »X-Mal! Concerts«. Gemeinsam mit Lars Wünsche (u.a. Manager für Die Art) werden Touren durch die dem Bundesgebiet zugeschlagenen Länder organisiert. Schwierig, denn noch haben viele Veranstalter nicht begriffen, daß sich jetzt alles, alles wendet. Wollen immer noch, daß die Band möglichst lange spielt, möglichst wenig kostet, Dorftanzmentalität allerorten. Mit denen geht dann auch folgerichtig gar nix. Bleiben eine Handvoll Enthusiasten, die durchsehen. Wo's mit der Anlage klappt, dem Essen, der Übernachtung. Und manchmal auch mit der Werbung. »Neulich rief einer an aus Leipzig, wollte Plakate haben. 50! Selbst 200 sind für eine große Stadt noch zuwenig! Und dann wundern sie sich, wenn keiner kommt zu den Konzerten.« Junge, unbekannte Bands aus Amerika touren lassen? Das reinste Verlustgeschäft. Keinnt doch keiner. Und dann soll auch noch das Jugendradio von der Scala verschwinden. Damit die einzigen Sendungen, die die Bands, die wir einkaufen, halbwegs vernünftig vorstellen. Dann ist der Ofen erstmal aus. Dann gehört Sachsen Sachsenradio, dann ist die Unordnung wiederhergestellt. Die Independant-Vertriebe sind noch nicht da, 'Spex‘ versteht auch keine Socke. Bleibt die 'Messitsch‘, doch die liest nicht jeder. Und selbst wenn: Was nützt der beste Artikel über eine Band, wenn ihre PLatte nicht erhältlich ist? Professionelle Strukturen möglichst schnell, fordert Ebi, sonst bricht alles noch einmal zusammen.

X-Mal und die Insel, das war schon vor der Zeitenwende ein Schulhort für Independant-Profimanagement. Manch einer witterte schon damals den Aasgeruch der großen Industrie, wenn die wohlparfümierte Dame aus dem Loft, verkleidet als Talentscout, mit Trara in Szenekreise einbrach. Und folgerichtig schimpft Mister Pohl den armen Ebi aus, als der Plakate für X-Mal in den »Eimer« einkleben will. »Für'n ehemaligen SED-Klub, oder was?« Das trifft's nicht ganz, zeigt aber Richtung. Wie singt uns doch »Keimzeit« so schön? »Irre ins Irrenhaus, der Andergraund in den Eimer.« Da bleibt er denn auch. Im Dorfe auf dem Altenteil. Und weiterhin fährt die Jugend nach West-Berlin, obwohl es das doch gar nicht mehr gibt. Das heißt dann Identität. Kann aber auch eine typische Dorfmacke sein. Traue niemandem, dessen Wiege in Hamburg oder München stand. Da liest man doch lieber 'Messitsch‘ als 'Spex‘ und kauft sich 'ne Scheibe von Peking Records. Von den unseren. Die haben die ganze Scheiße selber durch.

Rex und Ebi gleichlautend: »Es gibt Sachen, die kann ein Westler nicht wirklich verstehen; wie das hier war, was hier ablief.« Und auch fast gleichlautend: »Als es dann soweit war, da haben verdammt wenige wirklich was gemacht.« War ja auch fast niemand mehr im Dorf. Der Prenzlauer Berg diente als Sprungbrett in den Kreuzberg. Bis sich das vermischt oder gar verwischt... Wollen wir wetten, das dauert Jahre! Mindestens bis 1998, dem vorausgesagten Ostachtundsechzig. Denn das muß immer noch kommen, damit das mal klar ist! Bis dahin: Vorwärts nimmer, rückwärts immer. Uwe Baumgartner, Barde beim »Expander des Fortschritts«

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