piwik no script img

Pinochetow ante portas

■ Die Besetzung Litauens ist Teil eines Putsches zur Rettung des Imperiums KOMMENTARE

Der Zeitpunkt war scheinbar gut gewählt: Die Welt starrt auf den Golf, die sowjetische Unterstützung der antiirakischen Koalition bewies das Ende des Kalten Krieges. Jetzt ist wieder alles anders. Aber die Besetzung Litauens ist mit Sicherheit nur ein erster Schritt. Wider alle Vernunft wird die sowjetische Militärmacht versuchen, die „unruhigsten“ Gebiete, also auch die beiden anderen baltischen Länder, die Westukraine, Moldawien und die transkaukasischen Republiken, gewaltsam zur Raison zu bringen. Auch innenpolitisch brechen damit Eiszeiten an. Sicherlich läßt sich die Sowjetunion nicht mehr ohne Gewalt zusammenhalten. Es gehört jedoch nicht zu den Einsichten des sowjetischen Oberkommandos, daß auseinanderfallen sollte, was nicht zusammengehören will.

Daß die Entwicklung auf Gewalt zusteuerte, war vorherzusehen. Selbst Gorbatschow hatte immer verkündet, daß er die Sowjetunion unter allen Umständen zusammenhalten will. Daß er — solange er das Sagen hatte — nach Kompromissen suchte, daß er trotz mehrerer Wutanfälle eine Demütigung nach der anderen hinnahm, konnte Illusionen wecken. Aber schon die auf die Unabhängigkeitserklärung Litauens vom März 1990 folgende Wirtschaftsblockade deutete die Möglichkeit von Gewalt an. Daß es dazu nicht früher kam, ist auch Frau Prunskiene zu verdanken; in ihr hatte die litauische Nationalbewegung einen Kopf, der nicht nur in Kategorien des historischen Rechts, sondern auch der politischen Machbarkeit dachte. Ein Symbol war es, als sie kurz vor dem Einmarsch stürzte.

Die Machtverschiebungen in Moskau seit dem Sommer 1990, die Übernahme von Eliteformationen der Armee, darunter Fallschirmjägertruppen, durch das Innenministerium und den KGB, die zunehmend schriller werdenden Töne der nationalistisch-konservativen Fronde vom Oberkommando der Armee, dem KGB, bis hin zum russischen Schriftstellerverband und der russisch-orthodoxen Kirche usw. zeigten, daß sich etwas „zusammenbraute“. Das demokratische Rußland hingegen hatte seine Zähne verloren. Es sah der Entwicklung gelähmt, resigniert und jammernd zu. Daß Gorbatschow die Unterstützung der Demokraten verlor, ist tragisch. Unglücklicherweise hatte sich die Situation so radikalisiert, daß er nicht als Vermittler in Anspruch genommen, sondern den Konservativen zugerechnet wurde, weil er mit ihnen Kompromisse schloß. Die politische Unreife, der moralische Rigorismus und die Realitätsblindheit setzten sich durch. Die Tragik des Postsozialismus besteht darin, daß für die Herstellung demokratischer Verhältnisse die Voraussetzungen — eine demokratische Kultur und Frustrationstoleranz — noch fehlen. Nun ist Gorbatschow von den Herren des Stahlhelms und der Handschellen eingerahmt. Die Frage ist nur noch, wie lange sie noch auf das Feigenblatt Gorbatschow angewiesen zu sein glauben.

Der politische Umsturz, auf den die Besetzung Litauens verweist, ist der verzweifelte Versuch einer reaktionären Koalition, mit dem Reich die eigene Macht zu halten. Aber dieser Versuch wird blutig und kostspielig. Die wirtschaftlich marode Sowjetunion kann ihn sich eigentlich nicht leisten. Wohin die Reise geht, enthüllt die russische „internationalistische“ Bewegung in Litauen, die sich jetzt als „Rat der Nationalen Rettung“ konstituiert hat. Einen solchen Rettungsrat — dem Gorbatschow und Schewardnadse nicht angehören sollten — hatte der Betonkopf der konservativen Abgeordnetengruppe im Obersten Sowjet der SU, Generaloberst Alksnis, schon 1990 vorgeschlagen. Sein Vorbild war offensichtlich jene Junta, die sich 1973 in Chile an die Macht geputscht hatte. Allerdings darf man die Unterschiede nicht vergessen: Die russisch-orthodoxe Kirche gehörte in Chile nicht zu den nationalen Kräften, der Putsch wurde nicht vom KGB instrumentiert, es ging nicht um den Erhalt des sowjetischen Imperiums. Dort aber scheint der Weg nun vorgezeichnet. Die Frage ist nur noch, wer die Rolle von General Pinochetow spielen wird. Erhard Stölting

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen