: Wer Flens bestellt, hat selber schuld
■ Rave auf der Insel und Solidarität im Ecstasy — Eine Berliner Nachtwanderung
»Der Tagesablauf ist weiterhin eingeteilt durch das Lesen von Zeitungen und Büchern, die wir über unsere Freunde erhalten. Das letztere ist sozusagen eine Hauptbeschäftigung von Margot, während ich mich nach dem Zeitunglesen sehr stark mit dem Fernsehen beschäftige.« (Honecker im Kreuzverhör.) Doch da das Fernsehprogramm für die, die über keine Satellitenschüsseln verfügen, irgendwann zu Ende geht, gehen sie in die Nacht und die, die nicht dürfen, schmuggeln sich an Wächtern oder Eltern vorbei. Mit ihnen ging
Detlef Kuhlbrodt
Die führende Rolle in der Herstellung und Vertreibung großstädtischen Hauptstadt- Feelings liegt immer noch im Osten: Weil die Wege nicht so grell und hell vorgezeichnet sind, stattdessen gelb- trübe Lampen die stille Nacht des Radfahrers, Fußgängers, des uneinsichtigen Autoselbstfahrers betonen und immer wieder durch industrielle oder anderweitige Verlassenheiten führen.
Im Westen, genauer gesagt in der Schlesischen Straße, im polnischen Caf »Mysliwška« endet der Westen, beginnt der Osten. »Mysliwška« heißt übersetzt »Jägerbar« und »Jäger« bedeute im Polnischen gleichzeitig »Denker«. In rohen Braun- und Grüntönen, am »Dresdner Goldwasser«, einem Schnaps mit Edelmetalleinlage, bedenken einige die Lage und, ob »Rave, das neue Ding aus England: Drogen nehmen, tanzen, Popsongs remixen, immer noch tanzen, noch mehr Drogen nehmen ...« ('Spex‘), ob das recht und gut sei und ob, wenn man das »Drogen nehmen« abzöge noch etwas übrig bliebe vom Groove und der »Rave-olution«, die heut' nacht auf der Treptower Insel stattfinden sollte. Wer mag, fährt mit.
Von der geschwungenen Fußgängerbrücke geht der kühne Blick über leuchtende Hafenanlagen. Es riecht nach Kakao. Als vor einigen Jahren hier John McLauglin und Paco de Lucia spielten, schwammen die Massen nicht-kartenbesitzender werktätiger Jugend durchs Wasser zur Insel. Stasi- oder Was-weiß-ich- für-Boote suchten vergeblich die Musiksüchtigen aufzuhalten. Pfützen bildeten sich vor der Bühne. Die Insel der Jugend drohte unterzugehen. Damals.
Nun gibt es Flens und Wiener Würstchen und Studentenfutter mit tropischen Früchten. Wer Flens bestellt, hat selber schuld. 0,3 l Flens kosten 2,50 und 0,5 Berliner Pilsener kosten 2,-DM. »Unser spritziges Bier, mit dem der Berliner auf du und du steht.« (Doch wenn das authentische Berlinerisch im Supermarkt gesprochen wird, sind kompliziertere Mischungen aus Nähe und Distanz üblich: »Frau Westphal, kannst du mal herkommen«, heißt es da; in der Universität ist es häufig umgekehrt: »Annette, was sagen Sie denn dazu«) »Feinherb und aromatisch. Gekrönt von einer weißen, feinporigen Blume. Natürlich auch weiterhin in der Pfandflasche«. Braun oder grün leuchtet das Glas auf den Tischen. Schwarz und Weiß und Rot à la Lissitzky präsentieren sich die Räume des ehemaligen Jugendclubs und jetzigen e.Vs. Es fallen auf: sich in aller Unschuld und ohne Scham küssende Pärchen, sympatische Gesichter. Doch auch erschreckende Zeugnisse östlicher Einsamkeiten zeigen sich: Aus den Rolloseilen hat ein einsamer Gast, sicher in traurigen Stunden kunstvolle Kordeln geflochten.
Einige Tische werden zur Seilschaftsparty zusammengestellt. Ein Genosse bringt die Seilschaftsproblematik auf einen besonders schönen Nenner: das seien die Älteren, die sich nun trösten würden und müßten und einander beistehen. Hand in Hand nicken die anderen. Ein »Wiena« Würstchen (für den »Jürgen«) segelt durch den Raum. Mein Füller verschwindet [... und seitdem vermißt der Layouter seinen Lieblings-Kugelschreiber — was für eine Nacht ...]. Lutz Schramm trägt ein weißes T-Shirt und ist beim zweiten Blick schon wieder fort.
Rave, das sind erstmal (und zur Orientierung) Gitarrenpopstücke mit durchgehendem Dance-Beat. Ein paar Westler nehmen »Rave« zu ernst und die Ankündigungen der »In-Presse« zu wörtlich. Sie sind »dicht«, reden dummes Zeug oder schweigen versunken in Blödigkeit. DJ Electric Galenza on dt-64 (mit Baseballmütze) spielt zum wiederholten Male die »Happy Mondays«. Viele tanzen. Ein paar Lachen fliegen durch den Raum. Niemand rudert mit den Armen.
Ängstlich verlassen ein paar Westler den Osten, um zur sog. Radio-100-Solidaritätsparty zu fahren. Später werden traurige Nachteile der Motorisierung deutlich werden: Anstatt in einem Ort auf den Höhepunkt sich zu amüsieren, wird gewechselt, bis daß die Nacht zu Ende ist und am Morgen kein Aspirin mehr da. Auf den Plakaten am Wegesrand begegnet man martialischen »Preisbrechern« und Leuten, die das Aufrüsten nicht den Politikern überlassen wollen: »dies Jahr« und »mit Kat« will der blonde Plakatheld sein Gefährt »aufrüsten«.
Ein paar Meter hinter der »Kaiser- Wilhelm-Passage«, im »Ecstasy«, verdeutlicht sich die Sinnlosigkeit der Westberliner Nächte; in hundert Meter langen Schlangen schieben sich Amüsiersüchtige in die träge Masse stehend-amüsiersüchtiger Radio-100-HörerInnen(?). Kein Gesicht läßt sich unterscheiden, ob das Ecstasy nun drei oder vier Stockwerke hat und wo man sich gerade befindet, vermag man im Sog nicht mehr festzustellen. Nur im Keller, wo eine transusige Band Anachronismen hören läßt, ist ein wenig Platz, den die Radio-100-MacherInnen in Grüppchen auch freudig besetzen.
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