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Erinnerung an Prag 1968

■ Scharfe Reaktionen aus der CSFR/ Kanada, die EG und Japan stellen Wirtschaftshilfe in Frage

Niemand in Prag kann die Bilder von sowjetischen Panzern in Vilnius sehen, ohne an diejenigen zu denken, die vor 22 Jahren die eigene Stadt besetzten. Und noch eine Parallele: Auch hier war, ähnlich wie das litauische Fernsehgebäude, die Sendestation in der Vinohradska besonders stark umkämpft gewesen. Die Regierung der CSFR will mit einem beschleunigten Austritt aus dem Warschauer Pakt reagieren. Außenminister Jiri Dienstbier wurde beauftragt, das mit den Nachbarländern abzustimmen. Die Delegierten des Bürgerforums, die am Wochenende tagten, hielten eine Schweigeminute für die Opfer in Vilnius ab und ließen spontan die Sammelbüchsen durch die Reihen gehen. Staatspräsident Vaclav Havel zeigte sich in einem Fernsehinterview geschockt, sagte aber: „Ich bin schon seit längerer Zeit davon überzeugt, daß Herr Gorbatschow die Entwicklung in Osteuropa nicht versteht.“ Wie Havel forderten auch mehrere hundert Teilnehmer einer Demonstration, die vor die sowjetische Botschaft in Prag zog, Souveränität für die Balten. Auf Transparenten hieß es: „Hitler — Stalin — Gorbatschow“ und „Rote Mörder — Hände weg!“

Die polnische Regierung hat sich derweil bereit erklärt, litauischen Bürgern den Flüchtlingsstatus zu gewähren, wenn die Militäraktionen in ihrer Heimat andauerten. Am Sonntag gab es vor den sowjetischen Vertretungen in Warschau, Gdansk, Krakow und Katowice Demonstrationen. Auch die schwedische Regierung will im Notfall Flüchtlinge aus den baltischen Republiken aufnehmen — notfalls auch „eine große Zahl“. Aus westlichen Ländern kamen ebenfalls scharfe Proteste. Bisher haben Japan und Kanada öffentlich angedeutet, sie würden ihre Wirtschaftshilfe für die Sowjetunion überdenken. Tokio hatte im Dezember unter anderem einen 100-Millionen-Dollar-Kredit versprochen, der noch nicht ausgezahlt worden ist. Großbritannien und Belgien haben ihrerseits erklärt, die weitere EG- Hilfe für Gorbatschow sei jetzt in Frage gestellt. Der britische Außenminister Douglas Hurd sagte gestern: „Ich sehe nicht, wie wir [die EG] die Art Programme fortführen können, mit denen wir die Reformen in der Sowjetunion unterstützen wollen... wenn die Sowjetunion dem Westen und dem Gedanken an Reformen den Rücken kehrt und in ihre stalinistische Hülle zurückschlüpft.“

Die Außenminister der EG werden am Montag in Brüssel auf einer Sondersitzung die Lage in Litauen erörtern. Die Gewalt der Armee in Vilnius hatte die EG-Präsidentschaft schon am Sonntag in einer Erklärung verurteilt.

Druck hatte die EG vom litauischen Außenminister Algirdas Ausdargas bekommen. Er verlangte „entschlossene Maßnahmen“. Die bisherigen politischen Schritte könnten wenig helfen, wenn eine solche Großmacht wie die USA zu sehr mit der Golfkrise beschäftigt sei. Sabine Herre (Prag)/Agenturen

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