Normannenstraße — ein Jahr nach dem Sturm

■ Ein Hearing über den Stand der Stasi-Auflösung/ Die bürokratischen Beschränkungen des Sonderbeauftragten machen Bürgerrechtler wütend/ »Demnächst« abschließender Bericht über IM Czerny und seinen möglichen Doppelgänger de Maizière

Berlin. »Wider das Vergessen« hatte das Neue Forum zu einem Hearing geladen: Am 15. Januar 1990 hatten sich bei der Umzingelung der Stasi- Zentrale in der Normannenstraße deren Türen von innen geöffnet. Das Gebäude wurde gestürmt. Am Dienstag abend waren fünfzig Aktivisten aus dem inzwischen vergangenen Jahr zur Aussprache mit Vertretern der Gauck-Behörde gekommen — und mußten sich heftige Kritik gefallen lassen.

Die Mitarbeiter des Sonderbeauftragten gestanden ihre Überforderung ein: 4.000 Anfragen gab es allein in den ersten beiden Januarwochen, 10.000 Bewerbungen für die ausgeschriebenen Stellen liegen vor, die bewertet und überprüft werden müssen. Derzeit helfen den 20 hauptamtlichen Mitarbeitern 40 aus Westdeutschland für einige Wochen abgeordnete Angestellte aus. Im Saal saßen einige Mitarbeiter der Bürgerkomitees, die mit dem Ende der DDR am 3. Oktober ihre Arbeit einstellen mußten und bis heute auf ihre Einstellung durch den »Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes« warten. Nach den westdeutschen Kriterien für Einstellungen in den öffentlichen Dienst fehlen ihnen die entsprechenden Qualifikationen.

Ostberliner Stadtverordnete, deren Amtsperiode mit der Berliner Wahl am 2. Dezember abgelaufen ist, haben immer noch keine Antwort auf ihre Bitte um Überprüfung. Es gebe keine Einzelanfragen, teilte Christian Ladwig von der Gauck-Behörde mit und mußte präzisieren: Nach der derzeit gültigen vorläufigen Benutzerordnung kann ein Abgeordneter selbst keine Anfrage stellen, nur der Fraktionsvorsitzende. Die Stadtverordneten waren verdutzt. Anderes Beispiel: Wenn eine Belegschaft erfahren will, wer in ihren Reihen gespitzelt hat, ist nur der Leiter der jeweiligen Treuhand- Stelle antragsberechtigt.

Nach anderthalb Stunden Podiumsdebatte war dem aus der DDR ausgebürgerten Schriftsteller Jürgen Fuchs der Kragen geplatzt. »Beenden Sie diesen Zirkus. Wenn das das Ergebnis ist nach einem Jahr Stasi- Auflösung, dann können wir einpacken.« Als Regierungschef verantwortlich für die im Einigungsvertrag festgelegten restriktiven Bestimmungen war ausgerechnet Lothar de Maizière, dessen »Fall« nun die Gauck-Behörde aufklären soll. Ihre Ergebnisse darf die Behörde selbst nicht mitteilen. Daß die CDU in Brandenburg ihren Vorsitzenden aufgefordert habe, seine politische Pause zu beenden und wieder seines Amtes zu walten, wollte David Gill nicht glauben: Demnächst werde man dem Innenminister den endgültigen Bericht über ihre Nachforschungen zu Czerny/de Maizière übergeben, teilte er auf Nachfrage mit, mehr dürfe er den Versammelten nicht sagen. Schweigen.

Auch darauf bezog sich der Ärger des Schriftstellers Jürgen Fuchs. »Was wagen Sie sich eigentlich«, fuhr er die Behördenvertreter an, die sich mit den meisten Bürgerrechtlern duzen, »Sie haben zu dienen.« Er kritisierte die »obrigkeitsstaatliche Verteidigung dieses Zustandes«, in der den Opfern der Stasi-Kontrolle der Zugang zu den Akten verwehrt ist. »Täterschutz« sei das und kein »Opferschutz«, was nach dem Einigungsvertrag über den Zugang zu den Akten praktiziert werde, schimpfte einer.

Wegen der Behinderungen macht die Aufdeckung der »informellen Mitarbeiter« (IM) in den Ostberliner Oppositionskreisen nur langsam Fortschritte. Bei der Gründung der »Initiative Frieden und Menschenrechte« (IFM) war das Verhältnis der Stasi-Leute 1:1, berichtet Ralf Hirsch, der nach seiner Verhaftung 1988 den Stasi-IM Wolfgang Schnur zum Anwalt seines Vertrauens genommen hatte. Ralf Hirsch möchte seine eigene Akte einmal lesen, um zu erfahren: »Wie weit war ich fremdbestimmt?« Bis heute hat mit den wenigsten Stasi-IMs in den Bürgerbewegungen ein klärendes Gespräch stattgefunden. Ein IM, der zu der Versammlung gekommen war, gestand die Schwierigkeiten der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter ein, sich ihren Opfern zu offenbaren. Beratungsstellen für Stasi-Mitarbeiter seien vielleicht hilfreich, regte er an.

Um wieder politischen Druck zu machen, soll am Donnerstag abend im Berliner Haus der Demokratie ein neues Bürgerkomitee als »e.V.« gegründet werden. Klaus Wolschner