: „Ein Chemiewaffenangriff auf Israel ist kaum noch möglich“
■ Ein Gespräch mit dem Friedensforscher, Politikwissenschaftler und Flugzeugingenieur Ulrich Albrecht (FU Berlin) über die Kriegseröffnung am Golf Vom „surgical strike“ zur „infernalischen Luftoffensive“/ Saddam Hussein hat offenbar die Wirksamkeit der elektronischen Kriegsführung unterschätzt INTERVIEW
taz: Hat Sie der Angriff am frühen Donnerstag morgen überrascht?
Ulrich Albrecht: Nein, gar nicht. Zwar haben einige meiner Kollegen auf einen Abschreckungseffekt angesichts der um den Irak versammelten Arsenale gehofft — ich nicht. Der Krieg hat, das hatte ich auch so vorausgesehen, in der Nacht vom 16.auf den 17.Januar mit einer Serie von Luftangriffen begonnen. Die Nacht zuvor ereignete sich nichts, weil es mit der Stunde des Ablaufs des Ultimatums im Irak hell wurde. Die ersten Operationen sollten aber im Schutze der Nacht einsetzen.
Sind solche Voraussagen ohne Informationen aus den Einsatzleitungen nicht reine Spekulation?
Das Bizarre an diesem Krieg ist, daß sein Verlauf gemäß den Regeln der militärischen Vernichtungslogik auch weiter recht klar beschreibbar und teilweise voraussagbar bleibt. Als am 16.Januar die Meldung kam, schwere Interkontinentalbomber vom amerikanischen Typ Boeing B-52 gingen auf Position, war unmittelbar erkennbar geworden, daß der Angriff bevorstand. Die Preziosen des Strategischen Bombenkommandos werden nicht unnötigen Gefährdungen ausgesetzt — das war kein Teil eines show-down mehr.
Das erste Angriffsziel war Bagdad. Warum gab es bei diesem Angriff auf die Hauptstadt so wenig irakische Gegenwehr?
In der Nacht wurden allem Anschein nach zuallererst mit Mitteln der elektronischen Kriegsführung die irakischen Radaranlagen geblendet und die Feuerleitanlagen der Abwehrwafen schachmatt gesetzt. Das erklärt nicht nur die Berichte über gleißendhelles Licht über der Stadt, sondern auch die geringe Gegenwehr; die Irakis dürften buchstäblich blind gewesen sein. Dann wurden mit Bombern — wegen der größeren Präzision beim Punktzielangriff — und nicht mit Fernraketen, wie das ZDF irrtümlich meldete, gemäß einer Prioritätenliste militärische Ziele angegriffen. Ganz obenan standen die Mittel- und Kurzstreckenraketen, deren Einsatz mit chemischen Sprengköpfen gegen Israel Saddam Hussein angedroht hatte. Die Ausschaltung der irakischen Luftwaffe und der Luftabwehr am Boden, um die absolute Luftherrschaft der Angreifer zu gewährleisten, dürfte die zweite Priorität bilden. Das erfordert eine größere Zahl von Einsätzen gegen Raketenbatterien, Startbahnen und Ausweichpisten. Drittens mußten am Boden die Irakis in ihren Stellungen an der Frontlinie festgenagelt werden, damit sie nicht etwa zu einem Gegenangriff aufbrechen konnten. Erst an vierter Stelle wird die Zerstörung der Produktionsanlagen für die apokalyptischen Waffen Saddam Husseins stehen, weil es hier nicht auf einen Tag ankommt. Am 17. wird tagsüber — je nachdem, wie vollständig die irakische Luftabwehr niedergehalten werden kann — die Bombardierung zum „Ausputzen“ von Fehlabwürfen auf die Vorrangziele fortgesetzt werden, nachdem die Auswertung der Satelliten- und Flugzeugaufklärung Informationen über das Ausmaß der Zerstörungen erbracht hat.
Ist ein großer Chemiewaffenangriff auf Israel denn schon jetzt ausgeschlossen?
Ich würde sagen, daß die Gefahr eines Raketenangriffs der Iraker mit Chemiewaffen auf Israel nach den Zerstörungen der ersten Phase mit ziemlicher Sicherheit schon weitgehend beseitigt ist. Der Rest wird in den nächsten Tagen besorgt.
Der mögliche Einsatz von ABC-Waffen hat viel zu Eskalation und Panik beigetragen. Wie können diese Potentiale aus der Luft vernichtet werden, ohne daß damit auch apokalyptische Gefahren verbunden sind?
Besonders die Bekämpfung von ABC-Waffen und den Produktions- und Lagerstätten wirft weitreichende Fragen nach den Folgeschäden auf. Schon 1981 haben die Israelis mit 16 Flugzeugen einen Reaktor im Irak bombardiert. Über Folgeschäden ist damals nichts bekanntgeworden; soweit ich weiß, wurden allerdings nicht einmal Messungen durchgeführt. Sollten die Iraker schon über bombenfähiges Plutonium oder Uran verfügen, so würde dies bei einer Bombenexplosion zu Oxid verbrannt. Die radioaktive Verseuchung bliebe aber, so die Erwartung der Militärs, begrenzt. Möglicherweise würden aber nicht die Reaktorkerne selber angegriffen, sondern nur ihre Energieversorgung und andere Hilfseinrichtungen.
Soll das heißen, daß Saddam Hussein bald gar nicht mehr über Chemiewaffen verfügt?
Voraussichtlich wird es den Angreifern nicht gelingen, alle bei den irakischen Truppen verteilten Chemiewaffen im erten Streich zu zerstören. Anderseits behindert das Wetter irakische Racheeinsätze. Regnet es erneut oder kommen im Februar die erwarteten Sandstürme, sinkt der Wirkungsgrad dieser Kampfmittel beträchtlich. Dieser Aspekt hat möglicherweise auch zu dem Entschluß beigetragen, jetzt loszuschlagen.
„Surgical Strike“ — chirurgischer Schnitt — nennen die amerikanischen Militärs ihre Taktik. Angeblich sollen hierdurch auch neue politische Möglichkeiten eröffnet werden.
Nun, Saddam Hussein muß wohl erkennen, was ihm vorher nicht so klar war: Die elektronische Kriegsführung ist tatsächlich wirksam darin, ihm seine eigenen Möglichkeiten zu gezielten Gegenschlägen zu nehmen. Die in seiner Sicht kriegsentscheidenden Mittel, nämlich die Chemie- und möglicherweise Kernwaffen, werden ihm mitsamt der Trägerwaffen gleich im ersten Gang aus der Hand geschlagen. Jetzt kann er allenfalls eine Schlacht auf dem Boden führen — und das angesichts feindlicher Luftüberlegenheit.
Werden die alliierten Truppen am Golf mit dieser Taktik der flexibler Überraschungsangriffe aus der Luft weitermachen?
Diese erste Kriegsphase wird rasch abgeschlossen sein. Danach stände, gelingt es nicht, den Gang des Krieges zu unterbrechen, die zweite Stufe mit anhaltender Luftkriegsführung zwecks Bekämpfung und weitgehender Vernichtung der irakischen Armee und ihrer schweren Wafen an. Erwartet wird eine Luftwaffenoffensive von infernalischer Intensität, die alle Schrecken vergangener Luftkriege weit hinter sich läßt. Danach würden die Alliierten zum Bodenangriff übergehen, um Kuwait den Irakern zu entreißen. Interview: Georgia Tornow
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