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Man muß Nomade sein

Blaise Cendrars' Romanfragment  ■ Von Hans-Jürgen Heinrichs

Blaise Cendrars: nicht so weltberühmt wie Conrad, aber mit gleicher Leidenschaft für das Reisen und die Meere. Vielleicht hätte sein Weltruhm alles in den Schatten gestellt, wäre ihm sein großer Abenteuerroman John Paul Jones geglückt, wäre er nicht Fragment geblieben wie einige hundert andere Projekte auch.

Cendrars war ein Spezialist für das Projektierte und Unabgeschlossene, für den aufgeworfenen, aber nicht zu Ende geführten Gedanken; ein Spieler, ein Reisender, immer unterwegs in Gedanken und auf dem Papier. „Man muß Nomade sein, Ideen wie Länder und Städte durchqueren“, hatte Picabia geschrieben, gleichsam ein Motto für Leben und Werk des Frédéric Louis Sauser, genannt Blaise Cendrars: 1887 geboren, schon früh von zu Hause ausgerissen, in Rußland und China, in Paris und New York herumtreibend. Nach weiteren Reisen durch Italien, Brasilien und Spanien, einem Leben in Aix-en-Provence und Paris, stirbt er 1961 und hinterläßt ein Gesamtwerk von nahezu 40 Bänden — ein Klacks gegenüber dem, was er sich vorgenommen hatte.

Wie der Psychoanalytiker Georges Devereux hätte er sich einen „Orden für verlorene Fälle“ anlegen können. Mit André Gide hätte er sagen können: „Ich bin soviel auf Reisen, ich kann nichts ordnen“; wie Rimbaud wechselte er manchmal die Rollen zwischen Dichter und Geschäftsmann; wie der rasende Reporter Egon Erwin Kisch schaute er dem Leben ab, was er schrieb.

Das Leben und nichts sonst sollte sein Lehrmeister sein. Aus den erzählten Geschichten (und nicht aus den verstaubten Dokumenten) wollte er Geschichte rekonstruieren. Er verachtete die „muffigen Historiker“ mit ihren „verpuppten Körpern“, die „Archivratten“. Um sein Buch zu schreiben, hatte er sich nach eigener Aussage inmitten der „pulsierenden Dinge“ aufgehalten: „...ich fuhr unter Tag und flog mit Flugmaschinen über das Land, ich verkehrte mit Ingenieuren, mit Siedlern, mit Negern, mit Jazz- und Maxixe-Orchestern, mit Frauen, mit Leprakranken, mit Millionären, mit Hotelpagen, mit Missionaren, mit Journalisten, mit Staatsmännern, mit Aufständischen, mit jungen Psychopathen (der Karneval, die Prozessionen, die Hexerei), mit Verbrechern, mit positivistischen Offizieren, mit positiven Bankiers, ich hatte viele gute Freunde und besaß drei Hunde...“ Soweit Cendrars.

„... der moderne Abenteuerroman hat seine Sprache gefunden“, mit diesen Worten begrüßten die Kritiker Cendrars' Debüt als Romanschriftsteller (mit den Bänden Gold und Der Moloch), nachdem er vor allem als Lyriker hervorgetreten war und kurzzeitig mit dem Film geliebäugelt hatte. 1926/27 bereitete er mit seinen Ankündigungen das Erscheinen des Romans John Paul Jones geradezu generalstabsmäßig vor — um so tiefer war der Fall, als das Buch nicht zu einem Ende kam.

Was uns jetzt vorliegt, sind mehrere Fragmente, so wie sie der Autor in Zeitschriften veröffentlicht hatte. Woran ist das Projekt gescheitert? War John Paul Jones vielleicht nur in Cendrars' Phantasie interessant, nur in seiner Identifikation mit dem Weltenbummler und Draufgänger lebendig? Es ist denkbar, daß die Recherchen (die er ja eigentlich verabscheute und die er dennoch in diesem Fall eifrig betrieb) eine Figur ans Tageslicht brachten, die weit hinter dem Gigantischen seines Entwurfs hinterherhinkte.

So konnte der Autor das Bild seiner Begierde literarisch nicht einholen. Im Zwiespalt zwischen seiner imago und einer ausufernden, aber letztlich unbefriedigenden Materialfülle entstanden nur mehr Bruchstücke — es sei denn, es hätte eine Romanfassung gegeben, die wir nicht kennen, weil sie der Autor vernichtete.

Cendrars' Wunsch jedenfalls, einen zweiten General Suter (der Held seines Romans Gold) zu erschaffen, bleibt uns lediglich vom Autor überliefert; aus dem Textfragment selbst wird er nur mühsam rekonstruierbar. Wir können „das Ganze“ nur ahnen und zusammendenken, was dem Autor — auch unter dem Druck der sich selbst aufgeladenen historischen Verpflichtung — unter den Händen entglitt. Die Form des „Helden“ — oder „Legenden“-Romans, wie er sie mit Gold 1925 erprobt hatte, erweist sich als Barriere und nicht als Öffnung.

Außer der Cendrars-Biographie ist es vor allem der von Peter Burri herausgegebene Band Cendrars entdecken, der Lust auf den Autor der Prosatexte Rhum und L'Or, den Lyriker, Essayisten und Übersetzer machen kann. Es wäre an der Zeit, daß seine berühmt-berüchtigte Anthologie nègre — gelesen und benutzt von allen avantgardistischen Schriftstellern zu Beginn dieses Jahrhunderts; berüchtigt, weil sie einige Plagiate enthält — auch im deutschsprachigen Raum herauskäme. Es ist das Verdienst der Schweizer Verlage Lenos und Arche, große Teile des Gesamtwerks zugänglich gemacht zu haben.

Cendrars wollte mit seiner Literatur „Taten“ vollbringen, wollte lieber „roh“ als „empfindsam“ sein. Wie der Film wollte er sein, so schnell und vieläugig: „Einhundert Welten, eintausend Bewegungen, eintausend und tausend Dramen treten alle zugleich in das Gesichtsfeld des neuen Auges ein...“

Blaise Cendrars: John Paul Jones · Die Geschichte seiner Jugend. Romanfragment. Lenos-Verlag, 132 S., 26 DM.

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