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Sparpolitik der Regierung gefährdet „Wehrgerechtigkeit“

■ taz-Interview mit Regierungsdirektor Dr. Wolfgang Steinlechner, dem Leiter des Kreiswehrersatzamtes Berlin II in Pankow INTERVIEW

taz: Wie geht es Ihnen angesichts des Golfkriegs?

Dr. Wolfgang Steinlechner: Als politisch denkender Mensch — auch Mitlied einer Partei — ist mir überhaupt nicht wohl. Die Aussicht eines Krieges ist schlimm. Derjenige, der die Spannungen ausgelöst hat, ist Saddam Hussein — und der Islam. Einen Synodalen meiner Landeskirche habe ich gefragt, was die Kirche sagen würde, wenn der militante Islam auf uns zukäme, wenn Christen ausgerottet würden. Das war vor über einem halben Jahr — jetzt haben wir es. Hier hilft uns die christliche Nächstenliebe nicht weiter.

Können in Berlin oder Brandenburg lebende Reservisten, Wehrpflichtige oder Soldaten demnächst in der Türkei landen?

Nein. Niemand ist für diesen Fall ausgebildet. Sie können mit Reservisten der NVA nichts anfangen. Kein NVA-Pilot kann Bundeswehr-Flugzeuge bedienen. Das ist für die Öffentlichkeit sehr beruhigend.

Ist die Zahl der freiwilligen Bewerber aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Ost-Berlin besonders groß?

Der Wehrdienstberater, ein Stabsfeldwebel, auch aus dem Westen, hat jede Menge Besucher. Das Interesse ist groß.

Können Sie eine Gesamtzahl von Wehrpflichtigen in ganz Deutschland und den Anteil von alten und neuen Bundesländern sowie Berlin nennen?

In Berlin haben wir pro Geburtsjahrgang ungefähr 14- bis 16.000, davon in West-Berlin 7- bis 14.000. Die Zahl aller Wehrpflichtigen in Berlin dürfte bei rund 90.000 liegen. Ich zähle nur die, die für eine Einberufung in Frage kommen, also die zwischen 18 und 28 Jahren.

Wie viele Fälle von „Wehrflüchtlingen“ haben Sie bisher aus Westdeutschland bekommen?

Mein Amt hat etwa einhundert, Treptow noch über zweihundert Fälle. Wir in Berlin haben gebeten, die Versendung möglichst langsam anzugehen, da — wie gesagt — unser Personal noch nicht genügend Erfahrung mit derartigen Akten hat.

Haben vor allem ältere „Wehrflüchtlinge“ Post bekommen?

Nein. Alle Jahrgänge sind betroffen. In den letzten Jahren sind sehr viel weniger nach Berlin gegangen, vorwiegend ältere. Ich kann sicher sagen, daß es querbeet ging. Natürlich muß man im Sinne der Wehrgerechtigkeit bei den älteren anfangen und kann sich die jüngeren noch etwas aufsparen. Von den jetzt erfolgten Einberufungen sind nach Einsprüchen sieben übriggeblieben.

Wo stellt man Unabkömmlichkeitsantrag?

Da es entsprechende Stellen noch nicht gibt, sagen wir den Betroffenen, sie mögen an uns schreiben. Wenn sich die Einwände als einigermaßen zutreffend erweisen, wird nicht einberufen.

Sind Heirat oder Schwangerschaft der Partnerin Hinderungsgründe?

Das wird großzügig gehandhabt. Verheiratete oder kurz vor der Heirat Stehende werden in der Regel nicht einberufen.

Kann nicht jeder, der nicht dienen will, noch schnell eine Firma gründen, um sich unabkömmlich zu machen?

Das ist wirtschaftspolitisch nur zu wünschen. In West-Berlin holen wir uns aber entsprechende Gutachten zum Beispiel bei der IHK oder der Handwerkskammer ein. In Ost-Berlin fehlen entsprechende Stellen, aber auch der Mut zur Firmengründung.

Was gehschieht mit in Berlin lebenden Reservisten, die verweigern?

Für diese Kriegsdienstverweigerung fehlen uns auch noch die entsprechenden Gremien. Wir betreiben „Organleihe“ beim entsprechenden Ausschuß in Lüneburg, der die Zuständigkeit für Berlin übernommen hat. Das läuft erst an. Um mit Zwang an Reservisten heranzugehen, dafür gibt es noch keine Absicht oder Planung.

Wie sehen Sie die Stimmung in Berlin gegenüber der Wehrpflicht, nachdem die Pflichtgegner mindestens ein halbes Jahr Vorlauf hatten?

Dreißig Jahre Vorlauf. Die Frage war immer präsent, weil rechtlich alle Westdeutschen, die nach dem Erhalt des Einberufungsbefehls nach Berlin gegangen waren, als Soldaten galten. Diese Leute sind zu jedem Anlaß an die Öffentlichkeit getreten. Das hat die öffentliche Meinung in Berlin wahnsinnig verfälscht. Wir haben Anfragen auch von Westberlinern, die gemustert werden wollen. Ich glaube, daß die veröffentlichte Meinung anders aussieht als das, was die Leute bewegt.

Warum befürworten Jugendliche die Bundeswehr, obwohl sie hoffen, selbst nicht gezogen zu werden?

Ist doch klar: Jemand, der die Notwendigkeit der Bundeswehr einsieht, kommt seiner Wehrpflicht deswegen doch nicht mit Hurra nach. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, wo man mit Freude in den Krieg gezogen ist. Interview: Volker Michael

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