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Die Träne einer Komsomolzin

■ Paul Pawlikowskis Film über Wenedikt Jerofejews „Von Moskau nach Petuschki“, 22.55 Uhr, SAT.1

„Wie Puschkin gestorben ist, weiß kaum ein Mensch in Rußland, doch wie man aus der Möbelpolitur Alkohol gewinnt, weiß jedes Kind.“ Mit diesem Satz aus dem — Alexander Kluge sei Dank! — auch auf den deutschen Bildschirmen zu sehenden BBC-Film des Polen Paul Pawlikowski (im weiteren PPP genannt) über den mittlerweile weltbekannten Dicht-Er & Trink-Er Rußlands Wenedikt Jerofejew ist die geistige Lage des obengenannten Landes hinreichend (wenn auch nicht ausschöpfend) beschrieben.

PPP ist es beneidenswerterweise gelungen, etwas einzufangen, was zwar jeder, der längere Zeit in der Sowjetunion verbrachte, wußte, aber sich nicht getraut hatte zu artikulieren. Das als Ariadnefaden dienende Poem Jerofejews Von Moskau nach Petuschki (beste verschmidtsteste Prosa mit vielen Grüßen von Gogol) gewinnt durch den Film PPPs an Greifbarkeit und ist dabei keine Literaturverfilmung. Gesichter einer Stadt, eines Landes vielmehr, werden wohltuend und schmerzlich ungeschminkt gezeigt, und man wird dieses quälende Gefühl nicht los: Ja, so ist es, verdammt! Und so ist es auch.

Die Dokumentaraufnahmen belegen es mit einer Unerbittlichkeit, die kaum noch Raum läßt für Spekulationen oder gar Hoffnungen. Unerbittlichkeit ist nur ein anderes Wort für Liebe — von Herzen, mit Schmerzen, über alle Maßen... Bilder von erschreckender Wahrheit, die mit der Dichtung nur eines gemeinsam hat: nicht verstanden zu werden.

Die Bilder sprechen für sich, Bilder, wie man sie noch nie gesehen hat: das Innenleben der russischen Vorortzüge, der Ausnüchterungsanstalten, der Klapsmühlen, der Spirituosengeschäfte — die ganz normale tägliche Hölle. So hat sie bis jetzt kein Fernsehteam gezeigt.

Doch weshalb dieser Aufwand? Um was geht es eigentlich? Wer ist dieser Welt(un)bekannte Wenedikt Jerofejew? Ein Evangelist des russischen Existentialismus, wie ihn einige nennen; Vater der ironischen Literatur im Rußland der siebziger Jahre, die sich jedem einigermaßen empfindsamen Menschen ins Gedächtnis eingeätzt hat; Prophet und Hiob zugleich. Er war einer, der, weil er nichts zu verlieren hatte außer seiner Stimme, Texte schrieb über das wirkliche Leben in Rußland und dafür von seinen Kumpanen ein Glas Wodka bekam pro Seite; einer, der kurz vor dem Tod mit einem japanischen „Sprachrohr“ ein derartiges Russisch von sich gab, das in keinem Wörterbuch zu finden ist, weil direkt aus dem Leben; einer, der jahrelang ohne Papier lebte und besessen Papier beschrieb; einer, der auszog, aber doch nicht etwa, das Fürchten zu lernen — er kannte es längst —, sondern die „unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Und diese fand er in Petuschki (präzise zwei Stunden und 14 Minuten Fahrzeit von Moskau — genauso lang wie die Lektüre des Poems), in der Gemeinschaft von Desperados, die, neben dem Saufen, Achmatowa, Pasternak, Gumiljow und etliche mehr auswendig konnten und in der literaturfreien Zeit Telefonkabel verlegten, damit sich Menschen verständigen. Zwischendurch wurde getrunken, mit Stil.

Kein Mensch in Rußland kennt den „Molotow-Cocktail“ (nachweislich eine deutsche Sprachfindung aus dem Zweiten Weltkrieg), aber dafür den Jerofejewschen Cocktail „Die Träne einer Komsomolzin“, bestehend aus 50 Prozent vergällten Spiritus und 50 Prozent Kölnisch Wasser. Die Mischung jedoch ist noch ganz nobel, es gibt schlimmere — die Rezepte liefert der Film frei Haus. Wie wäre es beispielsweise mit einem Gemisch aus Fußdeodorant, Insektenspray, Gesichtswasser und einigen Krümeln Tabak als Würze? Was sich so exotisch anhört, ist es mitnichten, die Phantasie eines in die Enge getriebenen Geistes kennt keine Grenzen. Gewiß: Der Alkoholismus ist keine ausschließlich russische Spezialität, er ist, wie viele andere Süchte auch, ein Symptom für Ausweglosigkeit in einer Gesellschaft, in der ein Menschenleben keinen Wert hat — man betreibt Selbstzerstörung als Selbsterhaltung, als „nationale Psychotherapie“, wie Wladimir Bukowski es einmal nannte. Sein amerikanischer Namensvetter wußte es auch und machte Literatur daraus. Hans Fallada beschrieb es. Ludwig Hohl lebte damit. Jerofejew starb daran. Im Theaterstück Die Walpurgisnacht oder Die Schritte des Komturs ließ er alle Hauptpersonen an Alkoholvergiftung sterben, „nur die Schurken bleiben am Leben — das leuchtet unseren Menschen ein“.

Von Moskau nach Petuschki galt in den siebziger Jahren als die russische Odyssee, der Joyceschen verwandt, die auch nur einen Tag des Protagonisten schildert, und so war es nur folgerichtig, daß PPP die Stationen (auch im wörtlichen Sinne) des Evangelisten Jerofejew besuchte und mit einigen noch lebenden Aposteln, unter anderem Joseph Brodsky, sprach. Doch er scheute auch nicht den Weg von Pontius zu Pilatus, um die Hilflosigkeit der Verantwortlichen angesichts solchen Elends zu dokumentieren. Das Gewöhnliche macht den Schrecken erst zum Schrecken. Der Film macht diesen Schrecken greifbar.

Jerofejews Frau Galina: „Er trank, er trank viel, er hat alles verloren, seine Manuskripte, seine Stimme, sein Glück im Leben, vielleicht; aber den Kopf, den hat er nie verloren.“ Sergej Gladkich

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