: Nach den Kids jetzt Studentenmassen
■ Mehr als 5.000 Studierende demonstrierten gestern gegen den Golfkrieg/ Der Druck auf die Schüler wächst: Schulverwaltung befürwortet Disziplinarmaßnahmen/ Mist vor die »Degussa« gekippt
Berlin. Auch gestern kam es wieder zu zahlreichen Protestaktionen gegen den Golfkrieg. Diesmal waren nicht nur die Schüler, sondern auch die Studenten aktiv: Mehr als 5000 von ihnen zogen in einem Sternmarsch von der Technischen Hochschule, der Hochschule der Künste, der Humbold Universität und der Freien Universität zum Schöneberger Rathaus. Zuvor waren mehrere hundert Schüler und Schülerinnen vom Breitscheidplatz beziehungsweise Alexanderplatz zum Platz der Luftbrücke gezogen. Zu dem Protestmarsch in der sechsten Unterrichtstunde hatte die Landesschülervertretung aufgerufen. In dem Aufruf zur Demonstration wurden ein sofortiger Waffenstillstand und Friedensverhandlungen gefordert: »Wir treten für eine politische Lösung der Nahost-Frage in Form einer internationalen Friedenskonferenz ein«, hieß es. Zu dem geplanten Zusammentreffen der West- und Ostberliner Schüler am Anhalter Bahnhof kam es nicht. Die Ostberliner Demonstranten waren zu schnell gelaufen und hatten sich schon verteilt, als die Westler kamen.
Im Vergleich zur vergangenen Woche, in der zeitweise über 30.000 Schülerund Schülerinnen den Unterricht sausen ließen, um gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, war die TeilnehmerInnenzahl gestern sehr gering. Eine Vertreterin des Schüler-Informationsdienstes ISKRA verwies auf Nachfrage der taz darauf, daß die Schüler an den Schulen zunehmend Repressionen ausgesetzt seien und zum Teil handgreiflich von Rektoren und Lehrern am Verlassen des Schulgebäudes gehindert würden. Ein weiterer Grund sei auch, daß bei vielen Schülern eine gewisse Demonstrationsmüdigkeit und Resignation eingetreten sei.
Während des Protestmarsches wurde aus dem Lautsprecherwagen mitgeteilt, daß die Schüler der konfessionslosen Goetheschule von der Schulleitung »gezwungen« worden seien, anstelle der Demonstration an einem Gottesdienst teilzunehmen. Außerdem sei in der Schule den ganzen Tag über der »Feueralarm« ausgeschaltet worden. Aus der Hermann-Hollert-Schule hieß es, die Schüler seien von Lehrkräften am Verlassen des Gebäudes gehindert worden. Im Fränzösischen Gymnasium sei die Schultür abgeschlossen worden.
Der Sprecher der Schulverwaltung, Erichson, verwies gestern gegenüber der taz darauf, daß die Schulverwaltung seit Montag in Hinblick auf die Schülerproteste eine »andere Linie« als in der vergangenen Woche befürworte. Bislang hatte sich die Schulverwaltung im Falle des Unterichtsboykotts für die Eintragung einer unentschuldigten Fehlzeit ausgesprochen. Nach Angaben von Erichson wurde den Schulen am Montag »freigestellt«, sämtliche zur Verfügung stehenden Diziplinierungs-Instrumentarien gegen die Schüler anzuwenden. Von der Eintragung einer Fehlzeit, über die Androhung und den Ausspruch von Tadeln und Sechsen bis hin zur Androhung und Ausführung von Schulverweisen ist Erichson zufolge jetzt »alles möglich, wenn es pädagogisch sinnvoll und verantwortungsgemäß« sei. Die neue Linie, die noch von Heide Pfarr (SPD) ausgegeben wurde, deckt sich mit den Vorstellungen des frisch gekürten CDU- Schulsenators, Jürgen Klemann. Der äußerte schon vorab, daß er Demonstrationen während der Schulzeit »nicht für den richtigen Weg« hält.
Solche Probleme haben die Studenten nicht. Rund 300 Kommilitionen des Fachbereichs für Agrarwissenschaft und Umwelttechnik karrten gestern mittag einen LKW voll Viehmist durch die Innenstadt und kippten ihn als »stinkende Blockade« vor die Tore der Firma »Degussa«. Die Firma ist dafür bekannt, daß sie den Irak mit Ausrüstungen für Chemiefabriken belieferte. Studenten des Fachbereichs Architektur errichteten auf der Grünfläche des Ernst- Reuter-Platzes mit 300 weißen Holzkreuzen einen symbolischen Friedhof. Sie wollten damit »an die vielen Menschen erinnern, die in diesem Krieg bereits ihr Leben lassen mußten, auch wenn in den Medien das Bild eines unblutigen Krieges vermittelt wird«. Der Friedhof wurde von Polizeibeamten nach einer Viertelstunde wieder geräumt. »Die Beamten machten das ungern und waren von der Richtigkeit ihres Auftrags nicht überzeugt«, teilten die Studenten mit. plu
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