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Brutus, Orsine & Co.

Eine Geschichte des politischen Mordes  ■ Von Klaus Bittermann

Erfährt man von Morden an Politikern in der Öffentlichkeit, von Leuten im Café beispielsweise, wenn die Nachricht sozusagen noch die Konsistenz des Gerüchts, der vagen Andeutung, der unbestätigten Information besitzt, dann ist eine leichte Euphorie zu bemerken, die den Überbringer der schlechten Nachricht genauso befällt wie seine Zuhörer. Der politische Mord, das Attentat, hat in diesem Moment die Qualität eines Schauspiels, das plötzlich und unerwartet an Dramaturgie gewinnt — zu einem Zeitpunkt, an dem alle schon vor sich hindösen, weil die Kammerspiele in Bonn und anderswo fürchterlich langweilig sind. Nun ist auch ein Historiker der Faszination des politischen Mordes erlegen und hat nach fünfzehnjähriger Recherchearbeit einen über 500 Seiten umfassenden Wälzer vorgelegt, der diesem Phänomen von der Antike bis zur Gegenwart nachspürt. Glaubt man dem Klappentext, so kommt Franklin L. Ford dabei zum Schluß, „politischer Mord ist unberechenbar“. Wer hätte das gedacht? fragt man sich unwillkürlich. Hat da wieder mal jemand empirisch aufwendig und mit detaillierter Besessenheit nachgewiesen, was sich jeder vernünftige Mensch sowieso denkt? Zunächst einmal macht sich Franklin L. Ford an die Klärung einiger zentraler Begriffe: politischer Mord, Attentat, Tyrannenmord. In der Reihenfolge der Aufzählung gewinnen sie an spezifischer Bedeutung. Unter „politischer Mord“ allerdings läßt sich sehr vieles subsummieren: das gezielte Attentat, eine zufällige Tötungsaktion, Bombenwerfen bis hin zum Mord aus persönlicher Motivation — vorausgesetzt, das Opfer ist eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Weil Ford den politischen Mord als allgemeinsten Begriff für seine Studie und dabei die Methode der „episodischen Betrachtung“ wählte, liegt es auf der Hand, daß der Gegenstand der Untersuchung nach allen Seiten hin ausufert.

Ein Buch, das sich wie ein Krimi lesen läßt, wie der Klappentext behauptet, ist es mit Sicherheit nicht. Das unendliche Name-Dropping und die Aufzählung der Ereignisse ermüden auf die Dauer der 500 Seiten, denn Ford durcheilt nicht nur drei Jahrtausende der Menschheitsgeschichte, sondern umrundet auch den Globus. Nur wenn sich Ford bei einigen Fällen etwas mehr Zeit nimmt und man genaueres über die gesellschaftliche Situation und die Attentäter erfährt, wird es spannend.

Im Kapitel Das 19. Jahrhundert wird von Carl Ludwig Sand, von Orsini und Netschajew erzählt, drei Attentätern aus drei Ländern, die es in der gleichen Epoche zur Berühmtheit brachten. Sand erstach den Dramatiker und Publizisten August von Kotzebue. Dieser galt nationalistisch gesonnenen Intellektuellen als Kosmopolit und war als „Spion des Zaren“ verdächtig, weil er am Petersburger Hof einen gewissen Einfluß ausübte. Sand hingegen, in einer Atmosphäre protestantischer Frömmigkeit aufgewachsen, schloß sich den deutschen Burschenschaften an und war bei der ersten deutschen Bücherverbrennung auf der Wartburg mit dabei (der auch die Werke Kotzebues zum Opfer fielen). Als Sands Beschluß feststand, Kotzebue zu ermorden, brach er sein Studium ab und stellte jeden Kontakt mit seinen Kommilitonen ein. Dann entwarf er einen genauen Plan, um seine patriotische Tat auszuführen. (Die Suche nach einer hinter Sand stehenden Verschwörung verlief übrigens ergebnislos.)

Nach dem grüblerischen Studenten aus Jena wechselt die Szenerie aus der bedrückenden Enge in die weltoffene Stadt Paris, in deren Oberschicht man am 14.Januar 1858 mit dem Klatsch über Theaterstücke, Opern und die Wintersaison beschäftigt war. Louis Napoleon fuhr mit der Kutsche, begleitet von seiner Frau und dreizehn Reitern der kaiserlichen Garde, vor die Oper, wo das Orchester Rossinis Wilhelm Tell spielte, als drei Bomben explodierten, die acht Tote und 156 Verletzte forderten. Louis Napoleon kam mit dem Leben davon. Der kurz darauf festgenommene Felice Orsini war zwar auch ein Vertreter der nationalen Sache, der „cosa italiana“, aber die Bewunderung für so unterschiedliche Revolutionäre wie Buonarroti, Bakunin und Mazzini weist schon darauf hin, welches Chaos seine Vorbilder in seinen Gedanken angerichtet hatten. Aber statt sich wie Sand eigenbrödlerisch abzukapseln, reiste Orsini in andere Länder, knüpfte Kontakte, lotete revolutionäre Verbindungen aus und brachte so ein Komplott zustande, das zwar dilettantisch, aber mit internationaler Besetzung ausgeführt wurde. Die Gerichtsverhandlung erregte großes Aufsehen, die Herzen der Pariser schlugen für den „gutaussehenden Mann mit seiner eleganten schwarzen Kleidung“. Vor seinen Richtern sagte Orsini aus, was die Leute hören wollten: „Ich habe gehandelt wie Brutus. Der Kaiser hat mein Land getötet, also beschloß ich, ihn zu töten.“

Ein ganz anderer Fall war Netschajew, der durch die Abfassung seines „Revolutionären Katechismus“ bekannt wurde: „Der Revolutionär ist ein vom Schicksal verurteilter Mensch. Er hat keine persönlichen Interessen, keine geschäftlichen Beziehungen, keine Gefühle, keine seelischen Bindungen, keinen Besitz und keinen Namen [...] Wir haben einen ganz und gar negativen Plan, den niemand ändern kann: die äußerste Zerstörung.“ Bakunin war ganz begeistert: „Diese jungen Fanatiker sind ganz wunderbar, Gläubige ohne Gott, Helden ohne Rhetorik.“ Zwar hat Netschajew kein mit Orsini vergleichbares Komplott angezettelt, sondern nur einen Genossen umgebracht, der die Richtlinien des „Revolutionären Katechismus“ nicht befolgte, aber als Figur wurde er in Dostojewskis Roman Die Dämonen verewigt.

Das Interessanteste an diesen drei Fällen ist weniger die Frage, ob die mit dem Mord beabsichtigten Ziele erreicht wurden — die Frage, die sich Ford immer wieder stellt und die man getrost mit Nein beantworten kann — sondern die Tatsache, daß in der gleichen Epoche die Attentate nicht austauschbar waren. Orsinis Bombenanschlag und theatralischer Auftritt in der Öffentlichkeit konnte nicht nur aus historischen Gründen nicht in einem der deutschen Kleinstaaten stattfinden und vice versa. Der Eifer um die nationale Sache nahm unterschiedliche Ausprägungen an, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Vorsichtig warnt Ford vor Analogien und Vergleichen, aber liegt nicht gerade darin die Möglichkeit neuer Erkenntnisse begründet, die sich der reinen Beschreibung und Aufzählung verschließen?

So häufig der politische Mord auch vorkommt, so läßt sich doch kaum eine Gesetzmäßigkeit daraus ableiten. Das ist auch nicht verwunderlich, weil der politische Mord aus den unterschiedlichsten Motiven begangen wird, aus individuellen, privaten, kollektiven. Ein Phänomen jedoch läßt sich empirisch belegen, nämlich „daß die Zahl der Attentate relativ gering ist, wenn größere Kriege stattfinden, und daß sie stark ansteigt, wenn die Periode nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen durch gesellschaftliche Konflikte gekennzeichnet ist. Eine weitere bedeutsame Beziehung ist die zwischen der Häufigkeit der politischen Morde und den Phasen der Entstehung von Nationen, wie sie für ein Zeitalter zerfallender Imperien charakteristisch ist.“

Die Probe auf diese Behauptung läßt sich in der gespannten Atmosphäre der Weimarer Republik machen: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Kurt Eisner, Erhard Auer, Otto Neuring und Hugo Haase werden alle 1919, im Laufe eines Jahres, umgebracht, während es zwischen 1931 und 1940 relativ wenig Attentatsversuche gegeben hat. Diese kleine Statistik verliert jedoch sehr schnell ihren Aussagewert, wenn man den Umfang der Repression berücksichtigt, den die Nazis auf die innere Opposition ausübten, die sie systematisch ausschalteten. Und auch bei der Liquidierung von Röhm und seiner SA handelt es sich schließlich um politische Morde.

Geht man in dieser Zeit jedoch von Attentaten aus, die das System des Nationalsozialismus treffen und umstürzen wollten, dann allerdings stimmt die von Ford aufgestellte Statistik wieder, denn außer einem mißglückten Anschlag von Georg Elser auf Hitler am 8.November 1939 und der Verschwörung einiger Wehrmachtsoffiziere ist nur die Ermordung Heydrichs durch tschechische Partisanen in Kooperation mit dem britischen Geheimdienst gelungen. Und auch hier stellt Ford die wohl kaum angebrachte Frage, ob Heydrichs Tötung „den Gegenschlag wert war, den sie hervorrief“. Dabei ist es nicht einmal die „Botschaft von Widerstand und Hoffnung“, die Ford als letzte und einzige Rechtfertigung noch gelten lassen will, sondern einfach der Kriegszustand selbst, den die Nazis auf bedingungslose Kapitulation hin führten und in dem mithin jede noble Geste absurd wurde. Unter den Bedingungen des totalen Krieges wäre jede Überlegung, die die Aktion vom späteren Erfolg abhängig gemacht hätte, bereits einer Niederlage gleichgekommen, d.h. genau das, was die Nazis mit ihrer Kriegsführung beabsichtigten: ein befriedetes Hinterland, in dem das Programm der Endlösung ruhig und in geordneten Bahnen durchgeführt werden konnte.

Daß Ford von einer merkwürdigen Kosten- Nutzen-Rechnung ausgeht und dabei das Spezifische des nationalsozialistischen Systems nicht begreift, wird auch an Sätzen wie diesem deutlich: „[...] der Versuch der Deutschen, Deutschland von Hitler zu befreien, war gescheitert und hatte Menschenleben gekostet [...]“ Abgesehen davon, daß es merkwürdig ist, vom Versuch der Deutschen zu sprechen, Deutschland von Hitler zu befreien, handelt es sich bei der Verschwörung vom 20.Juli um Männer, die selbst überzeugte Nazis und hohe Beamte des Dritten Reichs gewesen waren und deren Opposition sich keineswegs durch späte Einsicht in das Unrechtsregime entzündete, sondern an der Kriegsfrage daran, daß sie in Gewissenskonflikte gerieten, weil sie sich des Hochverrats und des Eidbruchs schuldig machten. „Daß angesichts dieser Ungeheuerlichkeiten ein Bürgerkrieg noch das Beste war, was Deutschland hätte passieren können“, wie Hannah Arendt schreibt, ist mit dem falschen Humanismus Fords nicht zu begreifen. Und über Günther Anders, der einmal sein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, Hitler nicht schon frühzeitig umgebracht zu haben, würde Ford wahrscheinlich nur sein weises Haupt schütteln und zu bedenken geben: Aber die Folgen! Haben Sie an die Folgen gedacht?

Franklin L. Ford: Der politische Mord — Von der Antike bis zur Gegenwart , Junius-Verlag, 544 Seiten mit 47 Abb., 58 DM.

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