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Im Revier von Adlern und Geiern

■ Drachenflieger Michael Wöltjen über „den anderen Blick“

Er steht auf der Rampe, läuft an, stürzt sich ins Leere. Die dritte Dimension nimmt ihn auf, trägt ihn in die Höhe und, die Termik ausnutzend, gleitet er in sanften Kreisen über das Tal. Michael Wöltjen ist Drachenflieger. Wann immer seine Zeit und die Witterungsverhältnisse es zulassen, schnallt er seine trapezförmigen Flügel aufs Autodach und fährt von einer niedersächsischen Kleinstadt in der Nähe Bremens gut 100 Kilometer bis zur Porta Westfalica. Von dort, von der Rampe des DCW (Delta-Club- Wiehengebirge), hebt er ab, um an guten Tagen erst vier bis fünf Stunden später auf irgendeiner Wiese wieder in die Erdenschwere einzutauchen.

„Oben in der Luft fühlt man sich wie ein Staubkorn im Universum. Das ist ein unvergleichliches Gefühl, ein bißchen beängstigend, aber auch berauschend.“

Seit er vor sechs Jahren auf einer Wanderung in Tirol Drachenflieger beobachtet hat, ist er infiziert. „Das ist schon etwas wie Sucht“, gibt er zu. Jede kleine Kummuluswolke löst bei ihm den unwiderstehlichen Drang zum Fliegen aus. „Der alltägliche Kleinkram relativiert sich. Man bekommt da oben einen ganz anderen Blick“, sagt er.

Seine schönsten Flüge hat er in den Alpen erlebt, bis zu sechs Stunden, zwischen 3 000 und 4 000 Metern Höhe. „Völlige Lautlosigkeit, keine Zivilisationsgeräusche mehr, manchmal im gleichen Termik-Bad mit Adlern oder Geiern.“ In der Brutzeit darf man den eigentlichen Beherrschern dieser Sphären allerdings nicht zu nahe kommen, dann verteidigen sie ihr Revier gegen das unbekannte Flugobjekt.

Wöltjen ist überzeugter „Genußflieger“ wie etwa die Hälfte seiner etwa 130 Vereinskollegen. Sie trennt eine „harte Grenze“ von den Leistungs-und Streckenfliegern. Die sind wie die Fußballer organisiert in einer Liga, veranstalten Schaufliegen und Wettfliegen und stellen sich „Blechkübel“ (Wöltjen) in den Trophäenschrank. Für den durchtrainierten 36jährigen, der beruflich in der bildenden Kunst zuhause ist, widerspricht der Wettkampfgedanke dem Wesen des Drachenfliegens: „Es gibt ja auch keine Weltmeisterschaften im Meditieren.“

Um den Traum des Ikarus realisieren zu können, bedarf es einiger körperlicher und auch finanzieller Anstrengungen. Ein guter Drachen kostet über 7 000 Mark, aber auch für 3 000 bis 4 000 Mark bekommt man schon zuverlässige „Hochleister“. Ehe man sich in den „Kokon“ genannten Stoffsack unter dem Trapez einhängen kann, um frei durch die Lüfte zu segeln, muß man erstmal etliche Lehrflüge absolvieren. Es gibt einen L(Lehr)-Schein, einen A-Schein, mit dem man sich nur im „Gleitwinkel“ zwischen Rampe und Starplatz bewegen darf und schließlich den B-Schein für die „Meisterklasse“, der zum unbegrenzten Flug berechtigt, soweit die Termik trägt.

Frauen sind (noch) Exotinnen unter den Drachenfliegern. Im DCW wagen sich knapp ein Dutzend in die Lüfte und die „gehören merkwürdigerweise fast alle zu den Leistungsfliegern.“Sonderlich gefährlich findet Wöltjen das Fliegen nicht. „In der Bundesrepublik gibt es über 10.000 Drachenflieger. Im Vergleich zu den Skiläufern sind die Unfälle nicht so erheblich.“ Gefragt sind allerdings hohes Verantwortbewußtsein und Selbstdisziplin.

„Wenn ich auf der Rampe stehe, in dem Augenblick, bevor ich springe, muß ich wissen, daß mein Gerät absolut in Ordnung ist und ich mich fit fühle. Wenn nicht, baue ich meinen Drachen wieder ab und fahre nach Hause.“ Einmal, noch ziemlich am Anfang, hat er beim Aufbau des mit Kunststoff bespannten Alugestänges einen Fehler gemacht. Die Folge: eine Bauchlandung mit gebrochener Rippe. Der Drachen war hin. Trotzdem: mit einem Vereinsdrachen hat er sich gleich nochmal in die Lüfte gestürzt. „Das muß man, sonst traut man sich nie mehr.“

1989 bereiste Michael Wöltjen zusammen mit Vereinskollegen das El Dorado aller Drachenflieger: die Westküste der USA. Santa Barbara, wo Steilküsten zu einen kilometerlangen weißen Strand herabfallen, die Wüste von Nevada, die bewaldeten Berge im Norden, der Grand Cannyon... “Diese Weite gibt es in Europa einfach nicht.“ Sein Mitbewohner behauptet, er sei „erst Wochen später wieder gelandet.“

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