: Krieg und Frieden an der Cannebière
In Marseille ist die Furcht vor Gerüchten größer als die vor Bomben/ Die verschiedenen Gruppen bemühen sich, den Krieg nicht in die Stadt zu lassen ■ Aus Marseille A. Smoltczyk
„Putain de merde — schon wieder'n Loch...“ Mahomet popelt mit seinem Springmesser in dem Damenpulli herum. Die verfluchte Diebstahlsicherung an dem Teil will einfach nicht aufgeben. Zack — schon wieder daneben, es ist zum Heulen: „Mamie, noch zwei Tango“. So heißt das Sirupbier im „Tout va bien“-Café — und Patronne Mamie gießt stoisch nach, ignoriert Messer, Wäschehaufen, Mahomet, wie sie es schon seit 50 Jahren tut.
Im Panier, Marseilles ältestem und verruchtestem Viertel, will man keine Scherereien. Den unteren Teil des Panier haben die Deutschen weggesprengt. Mamie weiß noch, wie das war, als sie mit Gasmaske herumlaufen mußte. Der Tango schmeckt nach Grenadine und das Radio quatscht von Operationen und zweiten Phasen. „Scheißkrieg“, sagt Mamie. „Scheißkrieg“ sagt auch Mahomet. Seine Zulieferer können kaum noch arbeiten, weil jetzt an jeder Straßenecke westenbepanzerte Flics herumlungern. Der Typ von der Wache fragte sogar frech, für wen er, Mahomet, denn sei. „Für Bush natürlich“, habe er geantwortet. Bloß keine Scherereien, jetzt wo die Geschäfte einigermaßen laufen.
Marseille ist Frankreichs Immigrantenstadt seit alters her. Armenier, Juden, Korsen, Algerienfranzosen, Maghrebiner — alles quer durcheinander, teilweise schon in der vierten Generation. Kein Melting Pot in dem es langsam gart, sondern ein brodelnder, stinkender Bouillabaisse-Kessel, in dem Konflikte lautstark ausgetragen werden. Aber seit dem 17. Januar hat sich die Stadt verändert: Abends sind Restaurants und Plätze menschenleer. Marseille scheint sich einzubunkern wie Saddam in seiner Wüste. Die Panik der ersten Stunden ist vorbei, die Hamsterkäufe von Zucker, Öl und Karabinern in Erinnerung an Algerien. Da sind keine Schlangen mehr vor den Bankschaltern und Reisebüros: „Von ausgebuchten Fluglinien ist mir nichts bekannt. Im Gegenteil: Es ist merkwürdig ruhig im Viertel. Als trauten sich die Leute nicht mehr auf die Straße“, meint der Mann im Reisebüro gleich neben der größten Moschee der Stadt.
Hier, im Herzen des arabischen Viertel Belsunce gehören die Juweliergeschäfte großenteils Juden, gleich dahinter beginnen die arabischen Basarstraßen. Wer von Algier aus nach Marseille kommt, dem ist egal, wo er einkauft. In den Läden laufen die Radios, aber jeder vermeidet es, über den Krieg zu reden. Die Erinnerung an den Algerienkrieg, an Pogrome gegen Immigranten und Attentate, sind in den Gemeinschaften noch zu frisch, als daß sie nicht alles tun würden, um Provokationen zu vermeiden. Sie bleiben lieber mit ihrem Schmerz allein, egal auf welcher Seite sie mitleiden. Georges Fernandez, ein Algerienfranzose, ein „Pied noir“, der zweiten Generation: „In meiner Familie wurde nie über den Algerienkrieg gesprochen. Und jetzt höre ich vor allem jüdische Pied Noirs, die sagen: Ich schweige lieber. Die wollen die alten Dämonen nicht wecken. Sie haben zuviel zu verlieren.“ Als Hadj Alali, Rektor der Moschee, letzte Woche zu einem Trauertag für die Kriegsopfer aufrief, ließen auch viele jüdische Geschäfte die Rolläden unten.
Die Religionsführer haben ihren Gemeinden empfohlen, nicht mit Journalisten zu reden. „Die Gemeinschaften haben zur Zeit mehr Angst vor den Medien als vor dem Golfkrieg“, sagt ein Fernsehjournalist, der seit Jahren mit der islamischen Gemeinde arbeitet, zu der etwa 150.000 Marseiller zählen. Da war etwa von einem veritablen Exodus der Algerier und Tunesier geschrieben worden. Natürlich hat es Panikreaktionen gegeben in den ersten Tagen. Doch wer hatte erwähnt, daß in Algerien die Schule wieder angefangen hatte und daß in Korsika die Mandarinenernte beendet war und viele Wanderarbeiter schlicht nach Hause fuhren? Ein Fernsehsender hatte kurz nach Kriegsbeginn einen der militanten Saddam-Anhänger aufgespürt und als Vertreter der Marseiller Moslems dargestellt. Das paßt nicht wenigen nur zu gut in den Kram, die schon vom Bürgerkrieg gegen die „fünfte Kolonne“ in den Ghettos träumen.
Bellevue ist eines der Marseiller Ghettos, eingeklemmt zwischen Kohlenhafen, Gasfabrik und Autobahn. Vier Volksbetonblöcke auf die ebene Erde gesetzt, 5.000 Immigranten in 800 Wohnungen gepackt. 80 Prozent der Jugendlichen sind ohne Arbeit und ohne Ausbildung dazu. Und obendrein noch Maghrebiner. „Seit dem Krieg vermeiden es die Leute, ihre Siedlung zu verlassen. Sie haben Angst, angegriffen zu werden. Kollegen von mir haben seit einer Woche 50 Prozent weniger Maghrebinerkinder in ihren Freizeitgruppen als vorher“, berichtet Bruno Lo Iacono, Leiter der Sozialstation. Erst gestern hätten drei Taxifahrer einen alten Algerier zusammengeschlagen. Das ist in diesen Siedlungen nördlich der Cannebière nichts Seltenes, aber: „Ich fürchte, daß jetzt alle Sozialkonflikte in Begriffen der ethnischen Zugehörigkeit ausgetragen werden. Seit zwanzig Jahren versuchen wir, dagegen anzugehen, jetzt gefährdet der Krieg die ganze Arbeit.
Die Kids von Bellevue stehen zwischen zwei Lagern. Ihre Familie ist für die arabische Seite, also notgedrungen für Saddam, aber in der Schule ist es oft besser, Frankreichs Fahne hochzuhalten. In den Vierteln wie Bellevue sind fast alle Jugendlichen für Saddam — ein Reflex spontaner Solidarität mit dem Underdog, der es den Reichen dieser Welt mal zeigt: „Die Jugendlichen der Ghettos haben die Politik über die Intifada entdeckt. Saddam ist auf der Seite der steinewerfenden Palästinenser, und die USA symbolisieren den Reichtum und die noblen Geschäfte, wo Leute aus Bellevue niemals Zutritt haben werden“, sagt Lo Iacoco. Mit Heiligem Krieg hat das nichts zu tun.
Der Frieden in der Stadt ist wichtiger als der Krieg am Golf. Das wissen alle, und deswegen ist die Furcht vor Provokationen und Gerüchten größer als die Angst vor wirklichen Unruhen. Die Lokalzeitung 'Provencal‘ vermeidet es wenn möglich von rassistischen Übergriffen zu berichten. Erst gestern wurde die Fensterfront des „Hauses des Ausländers“, ein Kultur- und Beratungszentrum in Belsunce, durch einen Sprengsatz zerstört. „Natürlich gibt es Kräfte, die das labile Gleichgewicht zwischen den Gemeinschaften stören wollen. Aber Marseille ist eine Familie. Die allermeisten Leute wollen miteinander leben“, meint Robert Holzhauer, trotz seines eidgenössischen Namens ein Marseiller reinsten Wassers und Animateur des Sozialzentrums von Belsunce. Er hat mit jüdischen und arabischen Jugendlichen begonnen, in allen Stadtteilen Friedensinitiativen einzurichten. Dort wird weniger über den Krieg gesprochen, als über den Frieden in der Stadt. „Hadj Alali, Bürgermeister Vigouroux und der Präsident der Vereinigung jüdischer Geschäftsleute unterstützen uns. Das ist doch fantastisch! Auch wenn CNN niemals darüber berichten wird...“
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