: Die eigenen Angelegenheiten
■ Zu den Schweizer Filmtagen in Solothurn
Der Laie ist einer, der sich in die eigenen Angelegenheiten einmischt, sagte der kürzlich verstorbene Schriftsteller Friedrich Dürenmatt. Das Wort Laie dürfte im Zusammenhang mit dem Schweizer Film zwar fehl am Platze sein. Doch das Sich-Einmischen in die eigenen Angelegenheiten zeichnet seit Jahrzehnten das Wesen des Schweizer Dokumentarfilms aus.
In der Schweiz sei der politisch oder gesellschaftlich engagierte Dokumentarfilm vom Aussterben bedroht, war in den letzten Jahren mit wiederkehrender Beharrlichkeit zu hören. Was sich letztes Jahr mit den Kinodokumentarfilmen Der grüne Berg von Fredi Murer über den Umgang mit der Atomkraft und ihren Abfällen und dem am Mannheimer Festival ausgezeichnetenPalaver, Palaver von Alexander Seiler über die Initiative zur Abschaffung der Schweizer Armee ankündete, fand an den diesjährigen Solothurner Filmtagen seine Bestätigung. Das Leben in der Schweiz ist wieder im Mittelpunkt der Filme.
Gleich zu seinem persönlichen Geschenk zum 700.Geburtstag der Schweiz erklärte — mit feiner Ironie — Erich Langjahr seinen Film Männer im Ring. Mit seinem Dokument rund um die Landsgemeinde im Kanton Appenzell-Ausserrhoden schließt Langjahr seine Dokumentartrilogie zur Heimat ab: Von Morgarten findet statt (Wie wird Ende der siebziger Jahre die Schlacht bei Morgarten gefeiert?) über Ex Voto (Was bedeutet es, eine Heimat zu haben?) bis zuMänner im Ring.
Scharfsinnig montiert Langjahr seine Bilder über die Vorbereitungen auf den Tag, an dem mit geschwellter Mannesbrust Demokratie inszeniert wird. Nur vordergründig ist das Frauenstimmrecht, das in der Landsgemeinde mit Ach und Krach eingeführt wurde, das Thema des Films. Vielmehr spürt der Städter Langjahr den über Jahrhunderten gewachsenen, ländlichen Traditionen nach, die kurz vor Helvetias 700.Geburtstag und kurz vor dem europäischen Schulterschluß Auflösungserscheinungen zeigen. Dazu gehört auch das Streben der kleinen Lädeli, die bezeichnenderweise von Frauen geführt wurden und die trotz mehr Demokratie nicht weiterexistieren können.
Wie können die Schweizer und Schweizerinnen ein Bild von uns haben, wenn sie nicht sehen, wie wir leben. Diese Feststellung einer türkischen Familie steht am Anfang des Dokumentarfilms Seriat von Urs Graf und Marlies Graf-Dätwyler. Über eine lange Zeit hinweg besuchten die beiden Filmschaffenden die türkische Familie Tütüncü, die seit 16 Jahren im schweizerischen Mittelland lebt. Auf den ersten Blick erkennen wir auf der Leinwand die nach wie vor starke Prägung der türkischen Traditionen und der sunnitisch-islamischen Religion auf das Leben in der Fremde. Dann wird ein Wandel der traditonellen aus der Türkei mitgebrachten Traditionen erkennbar.
Seriat — obwohl an den Solothurner Filmtagen heftig diskutiert — ist ein Film, dem Seltenes gelingt: Mit großem Respekt gestalten die Filmschaffenden die Begegnung mit Menschen fremder Kultur.
Ein Blick zurück in die Vergangenheit bringt der in Frauenfeld lebende Dokumenfilmautor Friedrich Kappeler auf die Leinwand: Adolf Dietrich nennt er sein Porträt über den Thurgauer Maler, der in Berlingen am Bodensee lebte. Aus Gesprächen mit Leuten, die Adolf Dietrich gekannt haben, Fotodokumenten und visuell umgesetzten Interpretationen seiner vordergründig lieblichen, idyllischen Bilder formt Kappeler (bekannt geworden mit Der schöne Augenblick) sein Bild des Künstlers. Der Film gibt einem das Gefühl, dem lebenden Adolf Dietrich auf der Leinwand begegnet zu sein, obwohl der Künstler schon vor mehr als 30 Jahren, von der Schweizer Kunstszene belächelt, gestorben ist.
Viel Unausgegorenes gab es leider bei den Spielfilmen zu sehen. Eine erfreuliche Ausnahme ist da Anka Schmid, die mit Hinter verschlossenen Türen verdienterweise den Nachwuchspreis des Schweizerischen Filmzentrums gewann. In einer klassisch gestalteten, schwarzweißen Bildsprache stellt uns Anka Schmid die Bewohner und Bewohnerinnen eines alten, klassizistischen Berliner Wohnhauses vor. Der Film erzählt keine große Geschichte, sondern skizziert vielmehr anhand vieler kleiner Ereignisse, Gespräche und Reaktionen den Charakter der 17 Menschen in diesem Haus. Den statischen, auf die Geschlossenheit hin stilisierten Bildern der Räume und „ihrer“ Menschen stehen die wiederkehrenden Bilder der Fassade und der langgezogenen Straßenfluchten mit Hochbahn gegenüber. Robert Richter
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