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Von der Vörde in den heiligen Krieg

Flugabwehrraketengeschwader bereitet sich auf Einsatz in der Türkei vor  ■ Holger Bruns-Kösters

Bremervörde (taz) — „Wissen Sie etwas Genaues?“ Der Mann, der seit 32 Jahren Soldat ist, hat gestern abend aus dem Fernsehen erfahren, daß seine Einheit in die Nähe der türkisch-irakischen Grenze verlegt werden soll. Doch die Journalisten, die das Mannschaftskasino der Vörde-Kaserne in Bremervörde bevölkern, können ihnen nicht weiterhelfen. Eine halbe Stunde zuvor hatte ein Major den Soldaten das Neueste über den bevorstehenden Einsatz des Flugabwehrraketengeschwaders in der Türkei erzählt, ungefähr nach dem Motto: Mein Name ist Bernd, Baron von Hoyer-Brot, ich weiß von nichts.

Ein Vorauskommando soll die Lage peilen

Doch so viel ist klar: Noch gestern abend startete ein sechsköpfiges Vorauskommando des Geschwaders 36 von Bremervörde zum türkischen Nato-Flugplatz Diyabakar, um die Lage vor Ort zu erkunden.

Bremervörde ist eine 17.000-Einwohner-Gemeinde zwschen Bremen und Hamburg, Diyabakar eine 500.000-Einwohner-Stadt im Herzen Kurdistans. Dort befinden sich bereits holländische Patriot-Raketen und belgische F16-Bomber, um den Flughafen der Stadt zu schützen. Wenn das Vorauskommando zurückkehrt, soll entschieden werden, wie viele Hawk-Flugabwehrsysteme in die Türkei verlegt werden. Ein bis drei Halbstaffeln, heißt derzeit die Sprachregelung. Jede Halbstaffel ist mit neun Raketen bestückt. Diese haben eine Reichweite von 30 Kilometern und sollen angreifende Flugzeuge in sehr tiefen bis mittleren Höhen treffen können.

Wie viele Soldaten in die Türkei verlegt werden sollen, ist unklar

Wie viele Soldaten sich auf den Weg von der Vörde ins bedrohte Gebiet machen müssen — für die Sicherung, für das Sanitätswesen oder für die Küche zur Versorgung — mag Major Hoyer-Brot noch nicht verraten. 300 bis 400 werden es wohl sein, wird in der Kaserne spekuliert. Daß auch Wehrpflichtige dabei sein werden, wird nicht bestätigt, ist aber wahrscheinlich.

Hoyer-Brot: „Es kann nicht sein, daß es zwei Klasssen von Soldaten gibt. Wenn es Aufgaben für Wehrpflichtige gibt, dann kommen Wehrpflichtige zum Einsatz.“ Und wie ist die Stimmung in der Truppe? „Die Soldaten gehen an diese Aufgabe mit Professionalität heran. Begeisterung herrscht allerdings nicht.“

Der Major untertreibt: Bei den Wehrpflichtigen, die zum Interview in das Mannschaftskasino gelassen werden, herrscht Angst. Am Montag schwante ihnen zum ersten Mal, was ihnen da blühen könnte. Da wurde eine Routineübung kurzfristig abgebrochen. Letzte Gewißheit vermittelte die Tagessschau am Dienstag abend. Danach haben viele von ihnen stundenlang vor dem Fernseher gehockt und auf nähere Informationen gewartet.

Einer der sechs zum Interview Gekommenen trifft den Ton, der dem Presseoffizier gefällt: „Dafür ist man doch zur Bundeswehr gegangen“, sagt er. Für die anderen aber war es „der absolute Schock. Wir haben nur noch Galgenhumor.“ Und immer wieder „nackte Angst“. Einer der Gefreiten denkt über Konsequenzen nach. „Da könnten ja auch Folgeschäden für mich entstehen. Durch Giftgas und so. Da kommt schon der Gedanke zu verweigern.“ Ein anderer macht eine solche Entscheidung von der Entwicklung des Krieges abhängig. „Man denkt mit Sicherheit daran, aber eine so große Gefahr, das Leben zu lassen, besteht ja noch nicht.“

Inzwischen hat sich auch ein Grüppchen Bremervörder SchülerInnen zum Protest vor dem Eingang der Kaserne eingefunden. Zwölf von ihnen sind trotz der Androhung von Repressalien durch die Schulleitung zu Mahnwache vor das Kasernentor gekommen. Sie fühlen sich alleingelassen. „Die Parteien, von denen man es erwarten könnte, die rühren sich hier nicht“, sagte eine von ihnen. Es mag daran liegen, daß die Bundeswehr zur gewachsenen Infrastruktur des Ortes gehört. „Ohne die 1.100 Soldaten“, sagt der Mann am Imbiß gegenüber, „geht hier nichts. Kein Schützenfest und kein Karneval.“ Ob der stattfinden darf, darüber wird in Bremervörde jetzt gestritten.

Auch die Flugabwehrraketengruppe 42 in Schöneck bei Hanau wollte noch am Mittwoch abend ein aus sieben Personen bestehendes Vorauskommando in die Türkei schicken, vermeldet die Nachrichtenagentur 'ap‘. Der Presseoffizier der Einheit, Hauptmann Frank Schmuck, konnte noch nicht mitteilen, wieviel Mann in die Türkei verlegt würden. Dies werde von den Informationen abhängen, die man sich von dem Vorauskommando erwarte. Die Einheit in Schöneck ist mit Abwehrraketen „Roland“ ausgerüstet. Eine Staffel bestehe aus vier bis acht Werferfahrzeugen, von denen jedes zehn Raketen mit sich führen könne, sagte Schmuck.

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