: Prozeß gegen SED-Größen „eine Farce“
■ Bei dem Prozeß gegen den FDGB-Boß geht es nur um private Vergnügen/ Auch Zeugin Ackermann profitierte von Privatjagd/ Bürgerrechtler Templin (IFM) nennt Prozeß eine „Farce“/ Archive sollen für Aufarbeitung der Strukturen geöffnet werden
Berlin — Der Bürgerrechtler Wolfgang Templin, Mitbegründer der vor der Wende illegalen „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ (IFM), hat die Prozesse gegen führende SED-Politiker als „Farce und Tragödie“ bezeichnet. Mit den jetzt angelaufenen Prozessen würden nur die Rachegelüste der Bevölkerung befriedigt. Das zugemauerte DDR- System habe eine „Untertanenmentalität“ erzeugt. Die deutsche Justiz stelle jetzt einzelne Sündenböcke des alten DDR-Regimes an den Pranger, anstatt die Archive zu öffnen für die Aufarbeitung der inneren Struktur des DDR-Regimes.
Mit einer Flut von Anträgen der Verteidigung hat der zweite Verhandlungstag gegen den ehemaligen Vorsitzenden des DDR-Gewerkschaftsbundes, Harry Tisch, am Donnerstag begonnen. Die Verteidiger erklärten, der 63jährige gelernte Bauschlosser sei nicht in der Lage, den Prozeßstoff zu erfassen. Dem ehemaligen SED-Politbüromitglied und engen Weggefährten Erich Honeckers wird zur Last gelegt, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) etwa 104 Millionen Ost-Mark unrechtmäßig entzogen zu haben. Zur Anklage hat er sich bisher nicht geäußert.
Die Verteidigung führte als Begründung für die Forderung nach Aussetzung des Verfahrens an, bei Tisch hätten sich schwere reaktive Depressionen eingestellt. Es lägen „irreparable hirnorganische Ausfälle“ vor. Die 19. Strafkammer des Berliner Landgerichts sah allerdings keinen Anlaß, den Prozeß auszusetzen oder einzustellen.
Die erste Zeugin, Doris Ackermann (49), war seit 1977 im FDGB- Bundesvorstand tätig und seit 1982 Leiterin des Büros des Präsidiums. Sie schob alle Schuld auf Tisch. Was er sagte, war für sie Gesetz, erklärte sie. Die gelernte Stenotypistin und Diplom-Gesellschaftswissenschaftlerin war für den Repräsentationsfonds in jährlicher Höhe von 500.000 Mark, aus dem unter anderem Protokollgeburtstage und Frauentage bezahlt wurden, zuständig. Aus diesem Fonds wurden allerdings auch die Rechnungen der Gästehäuser beglichen, in denen Harry Tisch Urlaub machte. Nach Aussage von Frau Ackermann gingen über diesen Fonds auch Rechnungen des ehemaligen SED-Politbüromitgliedes Günter Mittag und einer Tisch- Tochter.
Der Richter präsentierte in der Verhandlung zwei Rechnungen von Mittag, der einmal für 15 Personen 15.000 und ein zweites Mal für 13 Personen 12.000 DDR-Mark über den FDGB-Fonds abgerechnet hatte. Nach Angaben der Zeugin hatte sie es für selbstverständlich gehalten, auf Anweisung für ein Politbüromitglied und den Gewerkschaftschef diese Rechnungen zu begleichen. Frau Ackermann gestand auf Anfrage der Verteidigung ein, daß sie persönlich auf Einladung Tischs auch in dessen Jagdrevier Eixen mit ihrem Mann Urlaub gemacht habe.
Tisch wird vorgeworfen, 104 Millionen Mark veruntreut und eine Überweisung von 100 Millionen Mark an den Staatsjugendverband FDJ veranlaßt zu haben. Sowohl nach altem DDR-Recht als auch nach dem bundesdeutschen Strafgesetzbuch droht dem 63jährigen eine Höchststrafe von zehn Jahren Haft. Die Verhandlung wird am 5. Februar fortgesetzt.
Templin: Verurteilung Tischs bringt nichts
Eine Verurteilung des ehemaligen DDR-Gewerkschaftsvorsitzenden Harry Tisch wegen Korruption würde nichts zur Bewältigung der Vergangenheit beitragen, erklärte der Bürgerrechtler Templin. Es müsse vielmehr die innere Struktur des DDR-Regimes durchsichtig gemacht werden. Templin forderte die Bundesregierung auf, gesetzliche Regelungen zum allgemeinen Einblick in die sechs Millionen Stasi- Akten zu schaffen. Nach Ansicht von Templin muß die für die personengebundenen Stasi-Akten zuständige Bundesbehörde in Zukunft das Mandat erhalten, Stasi-Verbrechen in eigener Initiative aufzudecken. Templin forderte die Bundesregierung auf, alles Archivgut der SED, der ehemaligen Blockparteien und Massenorganisationen „unter einer öffentlich-rechtlichen Konstruktion“ zusammenzufassen und einen öffentlichen Zugang zu ermöglichen. dpa/adn
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