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Tibet ist so exotisch!

Die Vernichtung des intellektuellen Lebens in Tibet durch die chinesische Zensur  ■ Von Robbie Barnett und Clare Longrigg

Im Oktober 1987 eröffnete die Polizei das Feuer auf Demonstranten für die Unabhängigkeit Tibets in Lhasa. Jegliche Kommunikation nach außen wurde abgeschnitten; Hotels, in denen sich Ausländer aufhielten, wurden durchsucht, sämtliche Fotos und Filme konfisziert und innerhalb von zwei Wochen hatten alle ausländischen Journalisten das Land zu verlassen. In China hatte die Presse zu berichten, daß nicht die Polizei sondern Demonstranten auf Tibeter geschossen hätten.

Für einen Journalisten wurde der Druck schließlich unerträglich. Dhukur Zering, ein 28jähriger Tibeter aus Amdo in Osttibet, ließ seine Arbeit im regionalen Radiosender liegen und wanderte über den Himalaya, um im Exil ein neues Leben zu beginnen. Er verließ seine Familie und seinen Arbeitsplatz, um dem Regiment von Zensur und Propaganda zu entgehen, das er schließlich nicht mehr ertragen hatte.

Seine Arbeit hatte sich ohnehin seit längerem darauf beschränkt, Nachrichten der amtlichen Agentur 'Xinhua‘ zu übersetzen und die Übersetzungen der ihm untergeordneten Journalisten zu kontrollieren. Die von ihm angenommenen Artikel mußten anschließend seinen Vorgesetzten vorgelegt werden, die sie nach Kriterien der Parteitreue noch einmal überprüften. „Man zwang uns, über alles und jedes nur die Parteilinie zu vertreten, und mit der Zeit kriegte ich Drohbriefe von Tibetern, die fragten ,Bist du überhaupt noch ein Tibeter? Wie kannst du solche Berichte veröffentlichen?‘“ Frustration und Wut führten schließlich zu einer schweren Depression. Der Journalist aß kaum noch und begann, schwer zu trinken. „Ich konnte den ganzen Kram nicht mehr sehen. Man benutzte uns nur noch als Propagandavehikel.“

Nicht einer der Journalisten des Tsongon-Rundfunksenders in Xining hat sich diesen Beruf freiwillig ausgesucht. Auch Dhukar war, wie fast jeder Berufstätige in der Volksrepublik, dem Arbeit und Arbeitsplatz zugewiesen wird, nach der Universität auf seinen Posten geschickt worden. Als Abteilungsleiter und einziger Tibeter dort, der eine Berufsausbildung hatte, konnte er, wie er sagt, „zu Information und Bildung des tibetischen Volkes absolut nichts beitragen“.

Seit der Übernahme Tibets durch China im Jahr 1950 versuchte der chinesische Staat sicherzustellen, daß weder neues Gedankengut nach Tibet gelangt noch die Wahrheit über die Verhältnisse in Tibet nach außen dringt.

Der Strafgesetzartikel über „Konterrevolution“ verbietet alles, was als „Unterstützung separatistischer Tendenzen“ interpretiert werden könnte und schließt damit jede positive Berichterstattung über die exilierte tibetische Führung aus. Sämtliche Druckerzeugnisse, die von Tibetern nach Tibet mitgenommen werden, durchsucht die Polizei sehr gründlich. Alles, was von der in Indien ansässigen Exilregierung stammt, wird konfisziert; Bücher und Reden des Dalai Lama sind verboten. Über vierzig tibetische Titel sind seit 1986 an den Grenzen zurückgewiesen worden; die chinesische Zeitschrift 'Hainan Boa‘ berichtete im August 1989, daß über 12.000 „Produkte religiös-propagandistischen und separatistischen Inhalts“ seit 1986 von den Grenzposten abgefangen wurden. Manchmal reißen die Grenzwachen nur ein paar beanstandete Seiten heraus und lassen den verstümmelten Text passieren. Beispielsweise kann man das Kinderwörterbuch Children's New Light English-Tibetan Dictionary nach Tibet einführen, allerdings nur, nachdem das Frontispizfoto des Dalai Lama herausgerissen ist.

Zu anderen Zeiten jedoch, und besonders nach den Unabhängigkeitsdemonstrationen, ging die Polizei weniger selektiv vor: Nach Demonstrationen im Oktober 1987 entfernten Polizeikräfte selbst aus den Bibliotheken der Fremdenhotels in Lhasa alle englischsprachigen Schriften, unter anderem die Kriminalromane von Agatha Christie.

Wichtigere Texte, die den Behörden in die Hände fallen, werden nicht zerstört, sondern chinesischen Funktionären zur Beurteilung übergeben. Der Staat bezahlt die Übersetzungen der Arbeiten seiner einflußreichsten Kritiker — darunter John Avedons In Exile From the Land of Snows und Shakapas Political History of Tibet —, sodaß chinesische Akademiker ihre Kritik an den verbotenen Büchern publizieren können. Solche „Antworten“ werden in China weit verbreitet und auch in andere Sprachen übersetzt.

Bücher und Papiere jedoch, die durch die Grenzkontrollen schlüpfen, verbreiten sich im Land mit großer Schnelligkeit. Im Januar 1990 wurde der Mönch Agyal Tsering in Osttibet, fast zweitausend Kilometer östlich der Hauptstadt, von der Polizei verhaftet. Er hatte eine Broschüre mit Reden des Dalai Lama und einen Stapel mit Flugblättern der Unabhängigkeitsbewegung bei sich gehabt; Agyal Tsering ist bis heute im Gefängnis.

In den letzten fünf Jahren sind durch ihre immer leichtere Reproduzierbarkeit Kassetten und Videobänder für Tibeter interessanter geworden als Druckerzeugnisse, die Strafen für ihren Besitz sind allerdings entsprechend hoch. Nach ihrer Verhaftung auf dem Weg nach Osttibet 1988 verbrachte Tashi Dolma insgesamt 16 Monate in verschiedenen Gefängnissen allein für den Besitz eines Tonbands mit einer Dalai Lama- Rede. Im April 1990 wurde ein Tibeter namens Topgyal für den Besitz einer Videoaufnahme von der Nobelpreisrede des Dalai Lama verhaftet.

Für den Druck verbotener Literatur sind die Strafen in Tibet jedoch noch weitaus höher. Man rechnet mit 3.000 politischen Gefangenen seit 1984 — die meisten von ihnen wurden wegen des Drucks oder des Verteilens von Material verhaftet, in dem von Tibets Unabhängigkeit die Rede ist. Im April 1990 wurde der 45jährige Tseten Norgye wegen des Besitzes einer Bleisatzdruckmaschine gefangengenommen.

Den Zugriff auf politisch mißliebiges Material suchen die Behörden zumeist dort, wo sie — zu Recht — den Nährboden für politischen Dissens vermuten: in den Klöstern. Dort nehmen politische Diskussionen im Alltag der Mönche mindestens so viel Raum ein wie ihre akademischen Studien. Die Sicherheitskräfte reagieren seit den Unruhen im September 1987 mit Razzien und Rund-um- die-Uhr-Überwachung.

Der 28jährige Mönch Ngawang Phulchung hatte gerade erst die Hälfte seiner Ausbildung zum buddhistischen Gelehrten im Drepung- Kloster, nahe Lhasa, hinter sich, als er im November 1989 zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Er hatte unter anderem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ins Tibetische übersetzt. Zehn weitere Personen, die ihm seit Frühjahr 1988 politische Literatur herzustellen und zu verbreiten halfen, wurden zu zwischen fünf und siebzehn Jahren Haft verurteilt.

Die von dieser Gruppe hergestellte Literatur umfaßte auch das Manifest für ein demokratisches und unabhängiges Tibet. In diesem Papier wird ein demokratisches Regierungssystem entworfen, das auf religiösen und weltlichen Prinzipien beruht. Der Begriff der Demokratie wird dabei nach traditionellen buddhistischen Ideen analysiert. Die geschriebene Sprache ist in Tibet traditionell der religiösen Sphäre vorbehalten und erst seit kurzem auch für säkulare Zwecke benutzt worden. Die Verhaftung der Mönche von Drepung, die zu den fortschrittlichsten Intellektuellen Tibets gehören, ist daher ein ernster Rückschlag in der Entwicklung modernen politischen Denkens in diesem Land.

Sprachgrenzen

Dhukar Tserings Entschluß, Tibet zu verlassen, war in der chinesischen Politik der Repression und Verschleierung begründet. Es dominiert allerings eine andere, indirektere Form der Zensur: Durch totale Kontrolle über die gesamte Publizistik wird akzeptiertes Denken herausgesiebt und unakzeptables verboten. So versucht die chinesische Regierung eine Literatur über Tibet zu kreieren, die diese Kultur zu einem zwar ethnisch interessanten, jedoch politisch unwichtigen Gebiet erklärt. Seit dem Ende der Kulturrevolution 1980 durch den damaligen Sekretär der Partei Hu Yaobang hat China offiziell eine Politik der Förderung der tibetischen Kultur eingeschlagen. Trotz der Bekundungen, daß der tibetischen Sprache eine größere Bedeutung eingeräumt werden soll, gab es jedoch wenig Fortschritte in dieser Hinsicht. Noch für die untergeordnetste Tätigkeit in Tibet wird die fließende Beherrschung des Chinesischen zur Voraussetzung gemacht. Die Verärgerung der tibetischen Bevölkerung wächst, vor allem in den Städten Tibets.

Die betonte Förderung der Minderheitenkulturen hat jedoch tatsächlich, zusammen mit dem Einfluß einer höchst populären chinesischen Literatur, eine neue Dynamik in die tibetische Sprache und Kultur gebracht.

Die meisten Tibeter werden kaum leugnen, daß die staatliche Förderung weltlicher Literatur, die mit der Herausgabe eines neuen Lexikons der politischen Begriffe begann, schon jetzt eine blühende Literatur in Tibet hervorgebracht hat — einschließlich erster Romane in tibetischer Sprache —, die die auf Religion und Propaganda begrenzten Texte der tibetischen Exilregierung bei weitem überragen. Tibetische Schriftsteller haben sich von der chinesischen Literatur inspirieren lassen und beispielsweise Kurzgeschichten und Theaterstücke verfaßt, die inzwischen äußerst populär geworden sind.

Viele Tibeter publizieren auch in chinesischer Sprache. Tibetisch hat dem Chinesisch den ersten Platz einräumen müssen. Wer in Tibet über die Grundschule hinauskommt (nur fünf Prozent der Tibeter), muß sich mit Schulen zufriedengeben, in denen Chinesisch die Unterrichtssprache ist, selbst zur Erlernung der eigenen Sprache. Lesebücher und Prüfungsvorbereitungspapiere existieren nur in Chinesisch, und der größte Teil der tibetischen Kinder verläßt die Schulen mit einer besseren Schriftkenntnis im Chinesischen als im Tibetischen. Zusätzlich werden mindestens tausend Schüler, auch Grundschüler, pro Jahr nach China geschickt, wo sie in einer völlig chinesisch geprägten Umgebung aufwachsen.

In der Schule sind die Kinder zudem einer sekundären Form von Zensur ausgesetzt: dem Lexikon der akzeptierten Ideen. Die Lehre marxistischer Prinzipien hat den Unterricht in tibetischer Geschichte ersetzt, und religiöser Unterricht ist in den Schulen ohnehin völlig verboten. Es gibt Fälle, in denen Schüler bestraft wurden, wenn sie zur Illustration eines Arguments Beispiele aus der tibetischen Kultur oder Religion heranzogen.

Für die Chinesen sind die Tibeter eine Ansammlung bunter Völker, mehr oder weniger ununterscheidbar von all den anderen Bevölkerungsgruppen, die in China „Minderheitsnationalitäten“ genannt werden. Tibetische Studenten werden für die Presse am liebsten in traditionellem Kostüm fotografiert — deutlicher Kontrast zu den Chinesen als moderner, produktiver Technokraten.

Nach der Verhängung des Kriegszustandes in der tibetischen Hauptstadt im März 1989, in der die Repression gegen Oppositionelle gipfelte, wurde in chinesischen Zeitungen gerne und oft als Foto abgedruckt, auf dem eine tibetische Frau im traditionellen Kleid den chinesischen Soldaten Tee einschenkt: es brachte so schön auf den Punkt, was erwünscht war, Folklore und unterwürfige Dienstbarkeit.

Satirische Lieder

In offiziellen chinesischen Publikationen über Tibet wird gern über die tibetische Freude an Gesang und Tanz und über ihr farbenprächtiges Kunsthandwerk geschrieben. Damit wird das Bild einer Welt voller Naivität und Zufriedenheit geschaffen — eine sozialistische Parallele zum traditionellen westlichen Bild von Tibet als einem Paradies der erdverbundenen Spiritualität. Von Tibetern geschriebene und ins Englische übersetzte Bücher über die chinesischen Minoritätenvölker werden an Buchständen in ganz China verkauft. Indem sie die Tibeter als farbenfrohes wenn auch etwas altmodisch-abergläubisches Völkchen präsentieren und damit ihre politische Statur verkleinern, sind sie eine wesentlich effektivere Antwort auf den nationalen Protest Tibets, als jede Anklage gegen Seperatisten es sein könnte.

Tatsächlich aber gibt es eine Wiederbelebung der tibetischen Volkslieder, die traditionell auf öffentlichen Plätzen und bei geselligen Zusammenkünften gesungen werden. Diese satirischen Lieder sind eine alte Form des Protestes, durch die seit Jahrzehnten schon Beamte und führende Personen der Gesellschaft verspottet wurden. Sie sind hochpolitisch geworden und ihre oppositionelle Botschaft wird dabei meist durch sehr komplexe und oft religiöse Symbolismen vermittelt. Viele ihrer Texte erinnern an Vorkommnisse der Gegenwart. Die folgenden Zeilen wurden in den Straßen Lhasas gesungen nach der Verhaftung von Nonnen, die im August 1989 vor dem Sommerpalast des Dalai Lama in Norbulingka demonstriert hatten:

In Norbulingka haben so

viele Blumen geblüht.

Nicht Hagelsturm noch Winterfrost

wird unsere Verbundenheit

sprengen.

Die Bedeutung der tibetischen Lieder ist den Behörden nicht entgangen. Im September 1989 wurde die Lehrerin Da Wa Dolma beschuldigt, ein „reaktionäres“ Lied an die Tafel geschrieben und es ihren Schülern beigebracht zu haben.

Auch chinesische Schriftsteller haben sich das Bild einer primitiven tibetischen Kultur für ihre Inspiration zu eigen gemacht. Zu Anfang der 80er Jahre sahen selbst führende chinesische Schriftsteller hierin eine Möglichkeit, Leidenschaften und Probleme zu behandeln, die als chinesisch zu bezeichnen sie sich nicht trauten. In dem Genre, das als „Primitive Literatur“ bezeichnet wird, enthüllt sich eine sehr dunkle Seite der chinesischen Fasziniertheit von „primitiven“ Ethnien; ein imaginierter Barbarismus wird dort gefeiert, der nur kurz vorm Pornografischen haltmacht. Ma Jian beschreibt in seinem Buch Zeig mir die Farbe deiner Zunge durch die Augen eines schockierten Chinesen tibetische Vielmännerei: „Immer, wenn die Brüder getrunken hatten, konnte man Mimas Schreie bis tief in die Nacht hören. Einer von ihnen hatte mit ihr Sex auf dem Rüpcken eines Pferdes. Da war sie bereits schwanger.“

Arbeiten wie diese, die außerordentlich in Mode waren, sind vielleicht literarisch radikal in ihrem Mut, beweisen jedoch in ihrem Bild von den Tibetern als edlen Wilden eine zutiefst kolonialistische Wahrnehmung.

Die Zensur in Tibet wurzelt tief in chinesischem Chauvinismus, der in jedem Fall eine chinesische Version aller Dinge favorisiert und sowohl in der Literatur als auch im Journalismus jedwede Darstellung beeinflußt. Dhukar Tsering betont ausdrücklich, daß in seinem Sender nicht ein einziger originärer Text je von einem Tibeter geschrieben wurde; wenn es eine lokale Story gab, über die berichtet werden mußte, ging es meist nur um eine „unbedeutende, triviale“ Angelegenheit, die zudem fast ausnahmslos von einem chinesischen Journalisten recherchiert und geschrieben wurde. Theoretisch gehörte zu den Aufgaben der tibetischen Journalisten des Senders, faktische Ungenauigkeiten über tibetische Besonderheiten in den Artikeln zu korrigieren. Aber Dhukar, der immerhin Leiter seiner Abteilung war, sagt, daß das in der Praxis nicht passierte. Solange dieses Zensursystem die tibetische Identität im Innersten unterhöhlt, werden gerade die qualifiziertesten tibetischen Journalisten lieber freiwillig ins Exil gehen — so wie Dhukar Tsering.

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