: „Der Angriff auf Irak wahrt nicht die Verhältnismäßigkeit der Mittel“
■ Die UN-Charta sanktioniert Gewaltanwendung nur für die Selbstverteidigung bei einer noch laufenden Aggression/ Militäreinsatz war nach der UN-Resolution 678 keineswegs zwingend geboten/ Verhandlungsmöglichkeiten wurden von den prokuwaitischen UN-Mitgliedern ungenügend ausgeschöpft — eine völkerrechtliche Interpretation
Der Völkerrechtsdozent am Institut für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg, Hermann Weber, hat im folgenden Text unmittelbar vor Kriegsausbruch eine vorläufige völkerrechtliche Einschätzung des Angriffs auf Irak nach Ablauf des Ultimatums vom UN-Sicherheitsrat am 15. Januar 1991 gegeben. Auch nach Ausbruch des Krieges sind dem Autor „keine Tatsachen bekannt geworden, die eine Revidierung dieser vorläufigen Einschätzung notwendig“ machen würden.
Vorbemerkung: Die UNO versteht sich als Instrument, um „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensabbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“.
Dagegen ist es nicht Aufgabe und Ziel der Vereinten Nationen, bewaffnete Angriffe zu ermöglichen oder militärischen Kampfhandlungen zur politischen Interessendurchsetzung eine Legitimation zu verschaffen. Alle Bestimmungen der UN-Charta sind deshalb im Lichte der Ziele und Grundsätze der UN-Charta (Artikel 1 und 2) zu lesen und auszulegen.
1.Die UN-Charta verbietet grundsätzlich die Anwendung und Androhung von militärischer Gewalt in zwischenstaatlichen Konflikten (Artikel 2, Ziffer 4), ausgenommen die Selbstverteidigung gegen einen „bewaffneten Angriff“, solange der Sicherheitsrat nicht selbst die erforderlichen Maßnahmen „zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ getroffen hat (Artikel 51). Diese Bestimmung ist eng auszulegen, wenn nicht Sinn und Zweck der Vereinten Nationen unterlaufen werden sollen: Der „bewaffnete Angriff“, gegen den mit bewaffneter Macht vorgegangen werden soll aus Gründen der Selbstverteidigung, muß noch andauern und darf nicht tatsächlich beendet worden sein.
Im Irak-Kuwait-Konflikt schwiegen die Waffen seit langem. Mit der Annexion Kuwaits hat der Irak seine Angriffshandlungen eingestellt. Es gab seither keine noch andauernden Kampfhandlungen, weder auf der Seite des Angreifers Irak noch auf der Seite des angegriffenen Kuwait. Danach durfte auf das Recht der bewaffneten Selbstverteidigung nicht mehr zurückgegriffen werden.
2.Die UN-Charta behält dem Sicherheitsrat die Maßnahmen vor, die zur Wiederherstellung des verletzten Friedens erforderlich sind (Artikel 39, vergleiche auch Artikel 51: „erforderliche Maßnahmen“). Der Sicherheitsrat hat von dieser Ermächtigung der UN-Charta Gebrauch gemacht und die irakische „Aggression“ verurteilt, die „Annexion“ für „null und nichtig“ erklärt (Resolution 660 und Resolution 662). Zusätzlich hat er ein umfassendes Embargo gegen den Irak nach Artikel 41 (nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen) ausgesprochen (Resolutionen 661, 665, 670).
Das Embargo wurde von den UN-Mitgliedern ganz überwiegend beachtet. Es ist effektiv, wenn auch nach Ansicht der Experten seine Wirksamkeit zuletzt davon abhängt, daß es mindestens ein bis zwei Jahre konsequent aufrechterhalten wird.
3.Der Sicherheitsrat hat zuletzt dem Irak ein Ultimatum gesetzt, die völkerrechtswidrige Besetzung und Annexion Kuwaits spätestens bis zum 15. Januar 1991 zu beenden. Danach wurden die UN-Mitglieder, die mit der Regierung in Kuwait kooperieren, ermächtigt, „alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um der Resolution 660 und allen dazu später ergangenen Resolutionen Geltung zu verschaffen [...]“ (Resolution 678).
Der Sicherheitsrat hat jedoch die UN-Mitglieder nicht verpflichtet, Maßnahmen durchzuführen. Er hat sie auch nicht ermächtigt, in jedem Fall militärische Maßnahmen gegen den Irak zu ergreifen. „Erforderliche Mittel“ im Text der Resolution 678 heißt vielmehr, daß keine unverhältnismäßigen Mittel zur Anwendung kommen sollen (Grundsatz der Verhältnismaßigkeit zwischen Zweck und Mittel ist Bestandteil des Völkerrechts!). Dazu gehört auch, daß nicht mit militärischen Mitteln reagiert werden darf, solange nichtmilitärische Mittel möglicherweise Erfolg versprechen.
Die Fristsetzung an den Irak war deshalb weniger als Angriffsermächtigung an die mit Kuwait kooperierenden UN-Mitglieder denn als Signal an die irakische Staatsführung zu verstehen, die Ernsthaftigkeit des Rückzugsverlangens nicht in Zweifel zu ziehen. Erst in zweiter Linie soll die Fristsetzung den UN-Mitgliedern auch eine Legitimation für militärisches Eingreifen verschaffen.
4.Die Resolution 678, auf die sich die mit Kuwait kooperierenden UN-Mitglieder im Falle eines Angriffs auf den Irak stützen werden, ist vom Sicherheitsrat unter drei, zum Teil unausgesprochenen, Erwartungen verabschiedet worden:
Erstens:daß keine Atomwaffen zum Einsatz gelangen. Eine entsprechende Zusage haben die USA inzwischen den Mitgliedern des Sicherheitsrates gegeben.
Zweitens:daß das Embargo sich als ineffektiv erweist. Ein solcher Nachweis kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erbracht werden (siehe oben unter 2.).
Drittens:daß alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, im Wege eines Kompromisses den Irak zum Rückzug aus Kuwait zu veranlassen, bevor militärische Angriffsoperationen eingeleitet werden.
Der Irak hat bisher alle Kompromißvorschläge abgelehnt. Auch der zuletzt durch den UN-Generalsekretär gemachte Vorschlag, in Kuwait eine UN-Truppe zu stationieren und zugleich die irakischen Streitkräfte aus Kuwait und die verbündeten Streitkräfte aus Saudi-Arabien abzuziehen, fand beim Irak kein Gehör.
Andererseits wurden die Signale des Irak an die mit Kuwait kooperierenden UN-Mitglieder, die Kuwait- Frage mit der Palästinenser-Frage zu verknüpfen, bisher nicht aufgenommen. Auch der Vorschlag Frankreichs, dem Irak den Rückzug aus Kuwait abzuverlangen gegen das Versprechen, eine internationale Nahost- Konferenz einzuberufen (sie ist von den arabischen Staaten bisher immer gefordert, von Israel aber abgelehnt worden), blieb unbeantwortet. Es ist aber mit den mit Kuwait kooperierenden UN-Mitgliedern zuzumuten, daß sie die Kuwait-Frage mit der Palästinenser-Frage verbinden, wenn dadurch ein großer Krieg vermieden werden kann. Eine solche Verknüpfung erzwingen auch die Ziele der Vereinten Nationen, nicht zuletzt weil
—die Palästinenser-Frage seit langem den internationalen Frieden bedroht und aus diesem Grunde zur schnellen Lösung ansteht;
—ein militärischer Angriff auf den Irak unverhältnismaßig hohe Opfer mit sich bringen wird, und
—speziell ein Krieg im Bereich der Ölfelder unkalkulierbare Risiken für die gesamte Umwelt zur Folge hat, die in keinem Verhältnis stehen zu dem Ziel, Kuwait wieder zu befreien.
Ohne die Möglichkeit auch nur geprüft zu haben, ob im Wege eines Kompromisses unter Einschluß der Palästinenser-Frage ein Angriff auf Irak vermeidbar und zugleich ein Rückzug Iraks aus Kuwait erreichbar erschienen, wird schwerlich davon die Rede sein können, alle Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft zu haben.
Ergebnis:Selbst wenn der Angriff auf den Irak auf konventionelle Kriegsführung auf rein militärische Ziele beschränkt werden kann, ist er doch im gegenwärtigen Zeitpunkt ohne völkerrechtliche Grundlage, weil das Embargo auf seine Wirksamheit hin nicht ausreichend geprüft worden ist — dies ist frühestens nach Ablauf eines Jahres möglich — und weil trotz der renitenten Haltung Iraks die zumutbaren Verhandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft wurden.
Hamburg, 16. Januar 1991 Dr. Hermann Weber
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