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Im Totenwinkel Österreichs

■ Gerhard Roths Bildband zu den „Archiven des Schweigens“

Wir leben im Zeitalter der digitalen Vernetzung. Kommunikation ist das Schlagwort Nummer eins seit langem. Doch je mehr Informationen wir austauschen, desto weniger wissen wir zu handeln. Theorien liefern Formulierungen statt Erklärungen, das kulturelle System kreist um sich selbst. Die Rotationsgeschwindigkeit nimmt zu, das Leben fordert seine Opfer anderswo. Dem hastigen Stimmengewirr der Metropolen hat Gerhard Roth seinen auf sieben Bände geplanten Romanzyklus Die Archive des Schweigens gegenübergestellt. Es ist der Versuch, in das weiße Rauschen der Zentren von den Rändern aus vorzustoßen. Österreich, das mit dem Verfall des Vielvölkerstates die Integrationskraft der Mitte verloren hat, verfügt über beide Erfahrungen: Es bewahrt die Größe in Melancholie und bodenloser Nonchalance, und es lebt in der Zweitklassigkeit, die dem Niedergang folgt. Seine Schriftsteller reagieren darauf mit wütenden Monomanien der Morbidität. Von Herzmanovsky-Orlando bis Thomas Bernhard, Franz Innerhofer oder Alois Hotsching bilden die Arien des Tötens und Sterbens einen festen Bestandteil der österreichischen Literatur. Gerhard Roth ist nach den experimentellen Anfängen an den Rand der Peripherie gerückt und richtet seine Wahrnehmung auf das Leben im Grenzbereich zu Jugoslawien, einen Landstrich, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Der Bildband Im tiefen Österreich von Roth dokumentiert, ähnlich dem Fotobuch zu den Amerika-Romanen, Lebens-, Anschauungs- und Assoziationsmaterial für die Romanabfolge und ist selbständiger Beitrag zum Thema, sofern er die Archaik des Gegenstandes in der freien Darstellungsweise der Bilder Ausdruck finden läßt.

Das Bildmaterial ist in die zwei Teile — Alte Photographien von der Jahrhundertwende bis zur Nachriegszeit und eine Auswahl Aus meinen Fotonotizbüchern — gegliedert, die Roth selbst als „Dokumente des Gehens und Nachdenkens über das Land“ bezeichnet. Die Aufnahmen von Bienenzüchtern, Bergarbeitertn, Bauern, Soldaten, Schulklassen und Dorffrauen, von Hochzeiten, Geburtstagen und Beerdigungen, vom Ernten und Schlachen, von Tieren und Landschaften halten die bestimmenden Ereignisse im Leben einer Region fest. Wären sie jedoch nicht mehr als ein solches, gleichermaßen privates Gedächtnis, würden sie kaum eine andere Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen als die Neugierde der heutigen Bewohner oder das ehrfürchtige Befremden, das Unbetroffene vor Bilddokumenten einer anderen Zeit mitunter befällt. Die Fotos gewinnen das Interesse des fernen Betrachters durch das assoziative Geflecht, zu dem Roth sein Material arrangiert.

Zunächst einmal erhält in dem vergessenen Landstrich die Natur als Übermacht sinnliche Präsenz. Die weiß gekalkten Häuser stehen allein auf den Hügelkuppen, ein Mädchen im Erstkommunionskleidchen verliert sich im leeren Feld. Breite morastige Straßen führen an Feldkapellen vorbei zu den Höfen. Im Winter bleiben die Menschen oft eingeschneit, und die Kälte malt unlesbare Muster der Erstarrung in die Stille. Die Fossilien, die an früheres Meeresleben erinnern, bestimmen auch den Charakter der Gegenwart. Ein überfahrener Salamander wirkt im Straßenstaub wie eine alte Versteinerung. Verlassene Gehöfte sind von Pflanzen durchwuchert, das letzte Bild zeigt ein Haus, das brennt wie die Kohlen, die früher hier abgebaut wurden.

Der Tod herrscht in Roths Assemblage offen über das Leben, alltäglich und ohne Mystifizierung. Wer heute noch ins Bild lacht, kann morgen im Eiswasser des Bachs einfrieren. Die Braut hat den Mörder schon bezahlt, wenn sie mit dem Ungeliebten zum Hochzeitsfoto posiert. Tote bahrt man zu Hause auf, die Trauer ist geselliges Ereignis, ein gedämpfes Fest, verwandt dem wiederkehrenden Schlachten der Tiere. Menschen und Tiere werden gleichermaßen zu Kadavern; ein zum Ausbluten aufgehängter Esel ist neben baumelnden Erhängten zu sehen. Sein gesellschaftliches Ritual findet das Töten und Sterben in der Jagd; stolz stehen die Männer um erlegte Füchse, tote Enten liegen zu einer Linie aufgereiht, Gewehre sind zum Sujet eines Stillebens geworden.

Der einzelne Tod und der verordnete: Vom Krieg kehren viele nicht mehr zurück, die ihre Einmusterung noch gefeiert hatten. Die erhängten Partisanen erinnern an die Nähe Jugoslawiens. Wo der zeitgeschichtliche Kontext nicht unmittelbar aus dem Bild zu schließen ist, hat Roth zum Mittel des Kommentars gegriffen. In Anekdoten, Geschichten und sachlichen Erläuterungen werden die punktuellen Fotoergebnisse der Peripherie mit den Vorgängen in den Zentren in Verbindung gebracht. Gelegentlich erhalten sie ihre Tiefenschärfe auch durch private Erinnerungen des fotografierenden Autors. In den interessantesten Fällen kommt es dabei zu assoziativen Überblendungen, die Natur und Gesellschaft ineinanderfließen lassen. So dokumentieren die zahlreichen Bilder von der Imkerei Roths Faszination durch Bienen, gleichzeitig stehen sie durch eine Kommentarbemerkung über den Ordnungsstaat für den ungebrochenen latenten Faschismus in der Region. Mit der Zweigleisigkeit von Bild un Kommentar gelingt es Roth schließlich, dem Leben im südweststeierischen Obergreith seine Fremdheit zu belassen, ohne es aus der Welt zu nehmen. Wo die scheinbare Harmlosikgkeit des Alltags aufbricht, wird manifest, was in unserer städtischen Gesellschaft verdrängt ist: die Allgegenwart des Todes und die Hilflosgkeit der Menschen in der Geschichte.

Gerhard Mack

Gerhard Roth: Im tiefen Österreich.

S. Fischer Verlag, 210 S. mit 188 Abbildungen, gebunden,48 DM

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