Kommunen vor dem „Kassenschluß“

■ Dramatische Finanzsituation spitzt sich zu/ In Sachsen wollen die Bürgermeister am Montag vor dem Landtag demonstrieren

Leipzig. Müssen in Leipzig demnächst Kindergärten, Krankenhäuser, Polikliniken, Theater und andere städtische Einrichtungen wegen „Kassenschluß“ dichtmachen? Die katastrophale Finanzlage der ostdeutschen Bundesländer, mittlerweile auch in Bonn kein Geheimnis mehr, veranlaßte den Leipziger Oberbürgermeister Dr. Hinrich Lehmann-Grube zu dieser rhetorischen Fragestellung. Rhetorisch deshalb, weil er einen Kassenkredit aufnehmen wird, um die Stadt noch einmal über das magische Bankrott- Datum Ende Februar hinweg liquid zu machen. Nicht einmal die Hälfte dessen, was Leipzig zur Aufrechterhaltung des normalen Betriebes benötigt, stehe der Stadt zur Verfügung, gar nicht zu reden von Wohnungsbauförderung oder dringenden Investitionen für die Sanierung der Infrastruktur.

Die Finanzlage der Thüringer Städte, Gemeinden und Kreise ist ebenso besorgniserregend. Diese Auffassung vertrat Innenminister Willibald Böck in einer Rückschau auf ein Vierteljahr Thüringer Innenpolitik vor dem Innenausschuß des Landtages. Er werde alles tun, um auch auf diesem Gebiet Verbesserungen zu erreichen, erklärte der Politiker. Dazu gehöre sein Vorschlag, einen höheren Teil der Kraftfahrzeugsteuer für die Kommunen zu verwenden. Er verlangte erneut die Änderung des Einigungsvertrages, um die Finanzausstattung der neuen Länder und deren Kommunen deutlich anzuheben.

In Sachsen-Anhalt sollen die Kommunen zur Entschärfung von Finanzengpässen über 200 Millionen Mark zur Verfügung gestellt bekommen. Finanzminister Prof. Werner Münch hatte diese Summe zum Ende der Woche weitergeleitet, 500 Millionen Mark wurden bereits Ende Dezember 1990 im voraus für Januar überwiesen. Die Landkreise und kreisfreien Städte hätten ihre Zahlungen per Scheck erhalten, den sie persönlich im Ministerium der Finanzen in Empfang nahmen, hieß es aus dem Ministerium. Unverzüglich müsse nun die Verteilung an die Gemeinden erfolgen. Die jetzige Zahlung sei eine außergewöhnliche, teilte Münch mit. Ursprünglich sollte eine Zahlungsanweisung entsprechend Gemeindefinanzierungsgesetz erst im März erfolgen. „Ich habe jedoch diesen Termin vorgezogen, um damit auf die von den Kommunen vorgetragenen Liquiditätssorgen, die die Landesregierung ernst nimmt, unverzüglich zu reagieren.“

43 Bürgermeister aus dem Oberlausitzer Landkreis Löbau haben ihre Amtskollegen in ganz Sachsen zu einer Demonstration vor dem Sächsischen Landtag zu dessen Finanz-Sondersitzung am Montag (11. Februar) aufgerufen. Sie richte sich nicht gegen die Landesregierung, sondern soll den Forderungen des Parlamentes an die Bundesregierung nach schneller Hilfe Nachdruck verleihen, erklärten die Kommunalpolitiker zum Abschluß einer Bürgermeisterversammlung des Kreises.

Wie auf der Beratung festgestellt wurde, stehen nahezu alle Kommunen des Landkreises vor dem finanziellen Aus. Die vom Bund bereitgestellten Mittel — 230 DM pro Einwohner und Jahr — für das erste Quartal seien bereits im Februar durch Lohn- und Betriebskosten erschöpft, an Reparaturen und notwendige Investitionen könne nicht einmal gedacht werden.

Wie die Teilnehmer in einem einmütig verabschiedeten Brief an Sachsens Premier Prof. Dr. Kurt Biedenkopf mitteilen, seien auch Fördermittel für infrastrukturelle Maßnahmen — Wohnraumwerterhaltung, Straßenbau, Rekonstruktion von Einrichtungen und Trinkwasserversorgung — nicht in Sicht, obwohl genügend Aufträge vorliegen. Fehlende Landesgesetze würden es nahezu unmöglich machen, Eigentum an Grund, Boden und Gebäuden an neue Besitzer zu übertragen. Handwerker und Gewerbetreibende könnten deshalb ihre Kapazitäten nicht ausbauen. Aus dem gleichen Grund bleiben auch Investoren aus, die bei einer Arbeitslosenquote von über neun Prozent im Kreis neue Arbeitsplätze schaffen könnten.

In dem Schreiben an den Ministerpräsidenten verweisen die Kommunalpolitiker zudem auf ihre unsichere soziale Situation. Sie verfügen nicht über den Beamtenstatus, werden von keiner Gewerkschaft vertreten und können jederzeit mit Zweidrittel-Mehrheiten in den Gemeinderäten abgewählt werden. Außerdem seien die Gehälter der Gemeindeoberhäupter weder den steigenden Lebenshaltungskosten noch dem allgemeinen Gehaltsniveau angepaßt, entsprächen auch in keiner Weise dem täglichen Arbeitspensum, das bei bis zu 14 Stunden am Tag liege. Den Bürgermeistern nachgeordnete Positionen — so die Leiter oder Geschäftsführer von Wohnungsverwaltungs- beziehungsweise Gebäudewirtschaftsunternehmen — würden hingegen bis zur doppelten Höhe der Bürgermeistergehälter entlohnt. Sigrid Kühn/adn