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Recht stabilisiert Macht

■ Die »zweite Nachkriegszeit« — Debatte über die Nachfolge des DDR-Rechtssystems in der Rechts-Sektion der Humboldt-Universität

Mitte. In der sozialistischen Gesellschaft, so glaubten sie, habe das Recht soziale Funktion gehabt. Die Gewaltenteilung war Richtern, Staatsanwälten und Schöffen, jenen, die Recht sprachen, wesensfremd. Gewaltenteilung gehörte nach DDR- Auffassung in die Kategorie der verwerflichen »bürgerlichen Theorie«. Die sozialistische Rechtsprechung hatte »Ausdruck und Bestandteil der einheitlichen Staatsmacht« zu sein. In diesem Sinne lehrten auch die Professoren der Sektion Jura an der Humboldt-Universität. Nun wird die Fakultät »abgewickelt«, übrig bleibt ein wissenschaftlicher Scherbenhaufen. Der wird, geht es nach dem Willen von Politikern, auf den Müll der Geschichte geworfen. Beschäftigungslos geworden, zieht der juristische Lehrkörper seine Warteschleifen. »Eigentlich sind wir heute schon nicht mehr existent«, charakterisiert Prodekan Artur Wandtke die Lage. Bevor er und seine Institutskollegen gänzlich die wissenschaftlichen Segel streichen, wollten sie diskutieren. Am Dienstag abend luden sie zu einer Generaldebatte mit dem Thema: »Staatsschutzstrafrecht und Vergangenheitsbewältigung auf dem Wege in die deutsche Rechtseinheit«.

Was können die im sozialistischen Recht geschulten Wissenschaftler einbringen in eine gesamtdeutsche Rechtswissenschaft? Können Juristen, die politisches Strafrecht in der DDR gelehrt haben, überhaupt wieder eine juristische Aufgabe übernehmen? Neun DDR-Professoren, einer aus West-Berlin und dreißig Studenten des Osteuropa-Instituts der FU machten sich gemeinsam auf die Suche nach Maßstäben. Herwig Roggemann, Professor am Osteuropa-Institut, warnte davor, »so zu tun, als sei nichts gewesen«, andererseits dürfe man in der Alt-BRD auch nicht der Versuchung erliegen, die Vergangenheit der DDR-Juristen pauschal zu verurteilen. Die BRD könne ihre Versäumnisse bei der Bewältigung der Vergangenheit von NS-Juristen nicht auf Kosten der Ex-DDR- Kollegen überkompensieren. Damit war der Rahmen des Abends definiert.

War der »sozialistische Rechtsstaat« eine Chimäre? Die Beurteilung des DDR-Rechtssystems soll die Kriterien für die Übernahme von DDR-Juristen in die gemeinsame Rechtsordnung an die Hand geben. Unschlüssig sind Richterwahlausschüsse und Rechtsexperten. Die Diskussionen in der Fachpresse fangen erst an. Der Einigungsvertrag spricht vom »Unrechtsregime« und bestimmt, daß niemand in den Staatsdienst übernommen werden darf, der gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat. Eine strenge Auslegung dieser Vorschrift würde den gesamten Bewerberkreis ehemaliger DDR- Richter disqualifizieren, fanden die Diskussionsteilnehmer an der Humboldt-Universität heraus. Eine ganze Reihe von Straf- und Verfahrensvorschriften des alten DDR-Rechts entsprachen nicht den rechtsstaatlichen Grundsätzen der alten Bundesrepublik. »Und bei der Beurteilung müssen wir immer eine Frage im Hinterkopf behalten«, mahnte West-Professor Roggemann, »wo sind wir denn als Widerstandskämpfer gegen Rechtsbeugung aufgetreten, die bei uns passiert?« Die vielzitierte Rechtsstaatlichkeit der BRD hinterfragte auch DDR-Strafrechtler Eckbert Klüsener und erinnerte an die Urteile von Mutlangen, an den Fall des Atomphysikers Traube.

Recht stabilisiert Macht. Eine machtbegrenzende Funktion konnte das Recht in der DDR nicht haben, denn dazu gehört die kritische Betrachtung des Rechts, die öffentliche Diskussion. Daß diese nicht stattfinden konnte, mochten die West-Studenten noch verstehen, aber wie hielten es die Professoren mit Kritik in den eigenen Vorlesungen? Zum Beispiel mit dem Thema Zensur? »Zensur war kein geschriebenes Gesetz«, erläuterte Urheberrechtler Wandtke. »Sie kam zustande durch die Verhältnisse.« Heißt das im Umkehrschluß, es habe keine Zensur gegeben? »Ich habe Zensur nicht behandelt mit Studenten.«

Welche Kriterien sollen bei der Beurteilung der DDR-Juristen gelten? Die Treue zum freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat, moralische und politische Integrität fordert die Westseite. Damit mochten sich die Teilnehmer der Veranstaltung nicht zufrieden geben. Jörg Franke, Verfassungsrechtler an der ehemaligen Akademie der Wissenschaft, warnte vor Identitätsthesen und forderte eine internationale Diskussion: »Es müssen Rechtskriterien sein, denen ein Engländer, ein Pole und ein Tscheche folgen können.« Die Zeit drängt. Der Einigungsvertrag verlangt Entscheidungen bis zum 15. April. Annette Rogalla

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