: Mentale Orientierung
■ Der Bundeswirtschaftsminister Möllemann treibt Laienpsychlogie als Politikersatz
Minister Möllemann hat die eigentlich Schuldigen des wirtschafts- und finanzpolitischen Desasters im deutschen Osten entdeckt: „Es fehlt“, so vertraute er dem 'Spiegel‘ an, „an der mentalen Orientierung der Menschen.“ Nach Jahrzehnten totalitäter Herrschaft hätten „sich Selbstzweifel bei sehr vielen Menschen tief eingefressen“. Selbstzweifel dürften — so viel ist sicher — völlig außerhalb der kognitiven Möglichkeiten dieses Ministers liegen. So fordert er konsequenterweise auch keinen Beistand für diejenigen, denen es an „mentaler Orientierung“ fehlt, vielmehr verlangt er für sich selbst eine Art Supervision, um mit diesen merkwürdigen mentalen Defiziten der Ostler besser fertig zu werden. Nach guter Bonner Tradition wünscht er sich einen Beirat („Strategieforum“) aus abgehalfterten älteren Herren. Dem Minister fielen dazu „Persönlichkeiten“ ein wie der ehemalige Wirtschaftsminister Hans Friedrichs (wg. Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt), der abgewählte, vom Korruptionsverdacht nicht ganz freie niedersächsische Ex- Ministerpräsident Ernst Albrecht und der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus v. Dohnanyi, der zur Zeit — mehr schlecht als recht — versucht, eine Leipziger Maschinenfabrik flott zu bekommen.
Mit solchen Sprechblasen lenkt der neue Wirtschaftsminister von der Orientierungslosigkeit der Bonner Wirtschafts- und Finanzpolitik ab. Die Regierung schiebt die eigene Unfähigkeit den Regierten in die Schuhe; sie macht aus BürgerInnen, die im Herbst 1989 ihre Mündigkeit überzeugend unter Beweis gestellt haben, therapiebedürftige PatientInnen. Das Gerede über die angeblich mangelhafte geistige Ausstattung der OstbürgerInnen, täuscht über die Mangelhafigkeit der gesamten Bonner Politik hinweg. Sie ist durch die vom Stammhirn diktierten Reflexe westlicher Besitzstandswahrung geprägt. Was not tut, sind aber klare politische Entscheidungen: Verzicht auf Straßen-, Schul- und Krankenhausneubauten im Westen zu Gunsten des Ostens, die Verkleinerung der Verwaltungsapparate in den alten Bundesländern, um die Verwaltung der neuen zu sichern, Vergabe öffentlicher Aufträge nur an die Firmen, die auch jenseits des Thüringer Waldes und der Elbe investieren, eine Tarifpolitik, die die Interessen der west- und der ostdeutschen ArbeitnehmerInnen miteinander verbindet ... Möllemann fehlt der Mut — vielleicht auch die mentale Kraft — für die materielle Umverteilung des westdeutschen Reichtums zu streiten. Götz Aly
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