: Westpreise, aber Gehälter wie in der Dritten Welt
■ Den Osteuropäern kommt der Beginn der Preisfreigabe teuer zu stehen/ Westfirmen zeigen kaum Interesse zu investieren
Wien (afp/taz) — Während die Wirtschaftsreformen in der Sowjetunion fast zum Stillstand gekommen sind, bemühen sich die neuen Demokratien in den anderen osteuropäischen Staaten mit allen Mitteln um den Übergang zur Marktwirtschaft. Ungarn, die Tschechoslowakei, Polen und Bulgarien haben begonnen, die Preise freizugeben. Doch der forsche Anfang hat schmerzhafte Nebenwirkungen: Die Preise für Lebensmittel und andere Produkte des Grundbedarfs, die bislang durch staatliche Subventionen niedrig gehalten wurden, schießen in die Höhe; gleichzeitig ist die Industrieproduktion um etwa 20 Prozent gesunken.
Direkt nach der Preisfreigabe mußten die BürgerInnen in den osteuropäischen Staaten auf einen Schlag für unverzichtbare Lebensmittel wie Brot und Milch 40 bis 100 Prozent mehr hinlegen. Die Gehälter jedoch halten mit dem Preisanstieg nicht Schritt, so daß ArbeitnehmerInnen für ihren Lohn immer weniger kaufen können. „Die Preise gleichen sich mehr und mehr denen Westeuropas an, während die Gehälter auf dem Niveau der Dritten Welt bleiben“, klagt ein ungarischer Wirtschaftsexperte. Besonders hart traf der Preisanstieg die RumänInnen. Die erste Etappe der Preisliberalisierung, die im November begonnnen wurde, führte zu einem Preisanstieg um 200 bis 300 Prozent. Um soziale Unruhen zu verhindern, verschob die rumänische Regierung den zweiten Schritt der Preisreform zunächst einmal auf Juni.
Nach Ansicht von Experten werden die Preise in Osteuropa zusätzlich dadurch in die Höhe getrieben, daß die Betriebe zu langsam privatisiert werden. In ganz Osteuropa beherrschen die Staatsbetriebe noch immer den Markt. Durch die Preisfreigabe haben die Monopolunternehmen plötzlich die Macht, Preise nach Gutdünken festlegen: Konkurrenz aus der Privatwirtschaft fehlt zumeist noch.
Bei der Privatisierung der Unternehmen setzen die osteuropäischen Regierungen vielfach auf Investoren aus dem Westen; doch die halten sich zunehmend zurück. Nach den Zahlen des österreichischen Wirtschaftsministeriums gründeten Westfirmen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs — die Sowjetunion und Jogoslawien eingeschlossen — etwa 16.000 Gemeinschaftsunternehmen mit Partnern im Osten. Trotzdem sind die westlichen Investitionen im Osten bescheiden geblieben. Der größte Teil der Joint-ventures verfügt über ein Startkapitapital von weniger als 60.000 Dollar (85.000 D-Mark). Nach Angaben des Wiener Instituts für Vergleichende Wirtschaftsforschung lagen die Investitionen in Osteuropa bis Ende vergangenen Jahres bei 1,5 bis 2 Milliarden Dollar, davon wurde eine Milliarde Dollar in Ungarn investiert. Investionen wie der Einstieg von Volkswagen beim tschechoslowakischen Autobauer Skoda sind die Ausnahme. Am meisten beklagen westliche UnternehmerInnen die unklaren Besitzverhältnisse in den bislang sozialistischen Staaten. Schließlich wollen sie nicht in Fabriken investieren, die ihnen möglicherweise gar nicht gehören werden. Aber auch die mangelnde Erfahrung der industriellen Führungskräfte im Bereich der Marktwirtschaft, ebenso wie die schwerfällige Bürokratie schrecken ab. Den Regierungen greifen in dieser Situation immer häufiger zum Appell, wie der slowakische Ministerpräsident, Vladimir Merciar: „Die tschechoslowakischen Unternehmen müssen sich doppelt so stark wie bisher direkt um neue Geschäftspartner im Westen bemühen.“
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