»Los Rudi, brich dir den Hals!«

■ Ostberliner Schulkinder genießen ein letztes Mal ihre Winterferien beim Schlittenfahren auf dem Friedrichshain

Prenzlauer Berg. »Bahn frei«, gellt es von der höchsten Spitze des Friedrichshain. Nachdem sich der 12jährige Junge auf dem Schlitten überzeugt hat, daß sein Ruf Gehör gefunden hat, setzt er sich in Pose, stößt sich kräftig mit den Füßen ab und fährt los. Aufrecht überwindet er die erste Hürde, die zweite »Sprungschanze« nimmt er mit einem zwei Meter hohen Flug durch die Luft und erfreut sich an der Bewunderung, die er hervorruft. Niemand ist vor ihm so hoch gesprungen, niemand so schnell und so weit mit seinem Schlitten gekommen. Doch das Unheil läßt sich vorausahnen. Alle Versuche, die rasante Fahrt zu bremsen, nützen nichts, Die Rekordfahrt endet schmählich am Zaun, vorbei ist's mit dem Ruhm. Der Volkspark Friedrichshain in Prenzlauer Berg ist seit Montag fest in der Hand jugendlicher Wintersportler.

Die letzten Winterferien für Schüler aus Ost-Berlin, bevor das Westberliner Schulrecht völlig übernommen wird, muten an wie aus dem Bilderbuch. Schnee in Höhe von 15 bis 20 Zentimetern, strahlender Sonnenschein, Minusgrade in nicht allzu schlimmer Tiefe. Während Autofahrer über den Wintereinbruch nur fluchen können, entnervt auf die überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel um- und noch entnervter wieder aussteigen, während sich Umweltschützer über die Verwendung von Tau- Salz empören —, da sehen die Kids aus Ost-Berlin nur eins: Ferien, Holidays, Schnee, Schlitten, Spaß, Fun... »Das Wetter ist einwandfrei, ich genieße den Schnee total. Gestern war ich schon vier Stunden lang rodeln«, freut sich völlig außer Atem ein kleiner Junge auf dem Weg nach oben.

Ein anderer Junge kann überhaupt nicht verstehen, »daß sich so viele Erwachsene über den Schnee aufregen. Na gut, meine Mutter hat sich gestern ganz schön hingepackt, aber trotzdem...«

Schon am frühen Vormittag waren die Eis- und Rodelbahnen von leuchtenden Pudelmützen und triefenden Nasen bevölkert. Schlitten und Skier haben den Friedrichshain in ein Skiparadies verwandelt. »Bei dem Schnee gibt's für mich gar nichts anderes, als Schlitten zu fahren«, schwärmt ein Halbstarker. Doch auf den Schneehängen herrscht ein rauher Ton. Für Gestrandete gibt es kein Pardon: »Geh doch von der Bahn weg, du Idiot! Hau ab! Bahn frei!« Martialisch werden die Freunde angeheizt: »Los Rudi, brich dir den Hals!« Blaue Flecke, Gejammer oder Selbstmitleid werden nicht akzeptiert, nicht verstanden. Pausen werden nur gemacht, um zu Mittag essen zu können. Um einen Baum am untersten Ende der Bahn herum liegen die Opfer der übermütigen Schlittenpartien: ein Haufen von liegengelassenen Schlittenskeletten.

Die Hierarchie auf dem Friedrichshain ist genau festgelegt: Die Länge des befahrenen Hügels legt die Tapferkeit, die Anzahl der Chancen, den Todesmut fest. Schon an der Richtung, die ein Schlittenfahrer am Eingang des Parks einschlägt, entscheidet sich, wieviel Mumm er in den Knochen hat. Einig sind sich allerdings alle Kids in der Ehrfurcht vor dem gefährlichsten Abhang — dem Todeshügel. Nach einhelliger Überzeugung verdient er seinen Namen. Wenn auch nicht der steilste Hügel, so ist er doch der längste und unwegbarste. Woher die zahlreichen Hügel auf diesem Abhang kommen, so sagt es die Rodler-Legende, erkenne man an seinem zweiten Namen: Knochenhügel. Wer sich auf ihn wagt, bekommt das Gütesiegel »Tougher than the rest«. Thekla Dannenberg