piwik no script img

Gestern noch Gegner, heute schon Nachbarn

■ In Stahnsdorf wohnen Sowjettruppen und Bundeswehr in gegenüberliegenden Häusern des ehemaligen Olympiadorfes von 1936/ »Seit dem 3. Oktober ist eine gewisse Scheu voreinander abgebaut worden«, meint der Bundeswehr-Kommandeur

Stahnsdorf. Gestern Gegner, heute Nachbarn und morgen entfernte Bekannte: Seit der deutschen Einheit und dem Verschwinden der Nationalen Volksarmee (NVA) schreiten in der Ex-DDR plötzlich Sowjettruppen und Bundeswehr Seit' an Seit' — die einen in Etappen Richtung Heimat, die anderen auf eine neue Organisationsstruktur im Osten zu.

In der Zillestraße in Stahnsdorf liegen sich heute beide Armeen unmittelbar gegenüber, einquartiert in zweistöckigen Putzhäusern des einstigen olympischen Dorfs von 1936.

»Seit dem 4. Oktober ist eine gewisse Scheu voreinander abgebaut worden«, wertet Regimentskommandeur Willi Duhr die vergangenen vier Monate dieser lange undenkbaren Nachbarschaft. Bis dato hatte der aus Hildesheim stammende Oberstleutnant ein Sanitätsbataillon in Braunschweig befehligt, nun steht er an der Spitze eines 20 Mann starken West-Trupps, der bei dem früheren NVA-Verband das Kommando übernommen hat.

Der umfaßte einst 130 Offiziere und 250 Unteroffiziere, von denen jeweils knapp ein Drittel übriggeblieben sind. Die 550 Mannschaftsdienstgrade sind inzwischen auf 460 abgeschmolzen, und bis zum Jahresende wird der Verband im Zuge der Umstrukturierung und Truppenreduzierung ganz aufgelöst. Die Häuser sollen dann zivil genutzt werden.

Kontakte mit den sowjetischen »Gaststreitkräften« seien rar und fänden ausschließlich auf der Offiziersebene statt, erzählt Duhr. Von der benachbarter Einheit seien ihm nicht einmal offiziell Name und militärische Funktion bekannt; und inoffiziell mag er sie nicht nennen.

Die Männer mit den typisch langen Mänteln und Fellmützen hätten »Sicherungsaufgaben für den eigenen Bereich«, weiß sein Stellvertreter Uwe Klauk wenig aufschlußreich zu berichten. Damit ließe sich wohl zur Zeit der Auftrag fast aller rund 380.000 Sowjetsoldaten taktvoll umschreiben, die bis 1994 deutschen Boden geräumt haben müssen.

Es wird gemunkelt, daß die »Sowjetische Einheit Zillestraße«, wie sie die Deutschen schmunzelnd nennen, einmal die Glienicker Brücke zwischen Potsdam und Berlin bewachte. Über die wurde zu Zeiten des Kalten Krieges Agenten ausgetauscht.

»Man toleriert sich gut nachbarlich«, charakterisiert Klauk die Situation. Was auch freundschaftliche Treffen nicht ausschließt: Eines geselligen Abends mit den deutschen Kameraden aus dem Westen waren es der hinzugebetene Sowjetkommandeur und sein Vize von der anderen Straßenseite, die das Eis brachen, indem sie Wodka und Speck spendierten. Die Verständigung habe wechselweise auf Französisch oder Englisch recht gut geklappt, erinnert sich Duhr.

Kurz vor Weihnachten sei dann sein Amts- und Dienstgradkollege völlig überraschend mit einer »Matrjoschka«-Steckpuppe und einem russischen Kalender in seinem Büro erschienen. Zum Glück habe er noch ein paar handgebackende Plätzchen griffbereit im Schrank gehabt, sonst hätte er das unverhoffte Geschenk gar nicht erwidern können.

Mittlerweile arbeiten die Streitkräfte beider Länder im Zusammenhang mit dem sowjetischen Truppenabzug im gemeinsamen Verbindungskommando längst eng zusammen, und auf regionaler Ebene haben sich die sowjetischen Einheiten und die 15 Verteidigungsbezirkskommandeure der Bundeswehr zusammenzuraufen. Im Alltag sind die Begegnungen zwischen sowjetischen und deutschen Soldaten nach dem Fortfall der alten »Waffenbrüderschaft« jedoch weiter zufällig und nicht selten mühsam.

Willi Duhr will nun sehen, ob sich hier nicht doch noch etwas bewegen läßt. Er hat seinen sowjetischen Nachbarn samt Familie zu sich nach Hause nach Hildesheim eingeladen, und der hat akzeptiert. Nun müssen nur noch dessen Vorgesetzte Verständnis für derlei Familienzusammenführung aufbringen. Ronald Bahlburg/dpa

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen