: Kein Trend nach unten bei Aids-Erkrankungen
■ Medizinische Tagung im Klinikum Steglitz: Wendepunkt in der Aids-Debatte?/ Trotz guter Absichten dominierten mal wieder nur die Zahlen/ Bundesgesundheitsamt: keine Abflachung der Erkrankten-Kurve/ Klinikum Steglitz betont die Pflege
Steglitz. Keine Trendwende bei den Debatten und auch keine bei den Zahlen: Viele Statistiken geisterten auf der Tagung der Berliner Aids-Spezialisten im Klinikum am vergangenen Wochenende durch den Hörsaal — obwohl Professor Orfanos vom Klinikum Steglitz die Tagung als »Wendepunkt weg von der epidemologischen Betrachtung der HIV-Infektion hin zur Diskussion der Behandlungsweisen« bezeichnet hatte.
Aber schon in der Vorab-Pressekonferenz war das Interesse auf Zahlen und deren Interpretation beschränkt. Dabei wollte Hautarzt Orfanos keine Stellung zu neuesten Erhebungen (im letzten Jahr 212 Aids- Erkrankte gegenüber 277 im Jahr 1989) nehmen. Gedrängt formulierte er nur vorsichtig: »Vielleicht ein Trend nach unten? Aber bitte betrachten Sie meine Spekulationen als inoffiziell. Ich bin kein Epidemologe.«
So warteten man auf die Rede von Professor Meinrad Koch vom Bundesgesundheitsamt, der als Leiter des Aids-Zentrums die Zahlen kompetent interpretieren sollte. Koch sah keinerlei Anlaß, die »abflachende Kurve« als Trend nach unten zu bezeichnen. Das Meldeverhalten sei nach Einschätzung von Dr. F. Schaart, Dermatologe am Klinikum Steglitz, vielmehr der Grund für die stagnierenden Zahlen, beispielsweise werde nicht jede Lungenentzündung, die im Zusammenhang mit Aids stehe, auch gleich als eine solche erkannt.
Ohnehin scheinen die Zahlenspiele sehr vage. Was die Infiziertenzahlen angeht, sind 43.114 in der Bundesrepublik bisher (Stand 31.1.91) gezählt worden. In Berlin sind es 7.488. Jeweils 30 Prozent davon sind offensichtlich Doppelmeldungen, die aufgrund der Anonymität der Laborbefunde entstehen. Zu den Erkranktenzahlen für Berlin meinte Professor Koch, daß diese irgendwo deutlich über der Tausendergrenze lägen, das BGA spricht offiziell von 1.202 Erkrankten in Berlin seit 1982. Im vergangenen Jahr wurden 212 Fälle registriert. Trotzdem kommt das Bundesgesundheitsamt zu einigen Schlüssen: Die HIV- Verbreitung sei »im wesentlichen eine Epidemie homosexueller Männer in einigen Großstädten der Bundesrepublik«, insbesondere West- Berlin. Die Zahlen aus der ehemaligen DDR — 130 Infizierte und 32 Erkrankte (19 in Ost-Berlin) — seien entgegen aller Spekulationen »korrekte Zahlen«.
Ganz andere Probleme sieht der ärztliche Leiter des Klinikums, Professor Dulce: Das zum Teil chronische Krankheitsbild von Aids kollidiere mit dem »strukturbedingten« Druck auf die Kliniken zur Verkürzung der Liegezeit chronisch Kranker. Folge einer solchen Politik sei, daß eine genaue wissenschaftliche Beobachtung dieser Krankheitsbilder unmöglich werde. Die Finanzierung stationärer Aids-Therapie über die Krankenkassen und Sonderbudgets sei auf Dauer kein ausreichendes Konzept. Auch die der Isolation entgegenwirkende dezentrale ambulante Betreuung müsse für die Zukunft durchgerechnet werden.
Dann endlich begann der für den HIV-Infizierten konstruktive Teil des Symposiums: Die Diskussion der zwar noch dürftigen aber vorhandenen Behandlungsmethoden. Diagnostik, Prophylaxe und Therapie von Aids-assoziierten und -opportunistischen Erkrankungen des Blutes, der Haut, der Lunge, des Magen-, Darm-Traktes, der Nerven und der Augen standen nun im Mittelpunkt. Viel Mühe für dürftige Erfolge: Lebensverlängerung um ein paar Monate, aber oft nur wenig Verbesserung der Lebensqualität.
Verständlich, daß Professor Orfanos entgegen solcher Zahlenspiele für die Pflege wirbt, denn die Pflegetage für Aids-Patienten und deren Schwersterkrankungen nehmen zu. »Die HIV-Infektion ist sowohl für die theoretischen als auch für die klinischen Disziplinen in der Gesamtmedizin eine besondere Herausforderung.« Aber interdisziplinäre Behandlung und Forschung braucht Geld, ein Aids-Bett im Klinikum Steglitz kostet 2.000 Mark pro Tag. Sasche Karberg
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