: „... nur noch zornig werden“
Situation Ostdeutschlands beschäftigt Bundestag/ Bundesregierung weist Vorwurf der Untätigkeit zurück/ Regierungslager für Steuererhöhungen/ SPD-Länder wollen Umsatzsteuer neu verteilen ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski
Daß der Patient krank sei und schneller Hilfe bedürfe, darin waren sich alle einig. Daß er „todsterbenskrank“ (Schulz/Bündnis 90) sei, weil die Bundesregierung außer „warten, bagatellisieren und schönreden“ (Thierse/SPD) nichts getan habe, das wollte die Regierung bei der Debatte zur Situation Ostdeutschlands aber nicht auf sich sitzen lassen. Finanzminister Waigel (CSU) sah trotz stark zunehmender Arbeitslosigkeit im Osten bereits die „marktwirtschaftlichen Strukturen wachsen“. Für den 400-Milliarden-Etat seien Umschichtungen und Kürzungen aber ausgereizt. Zur Finanzierung der fünf neuen Bundesländer blieben also nur noch Steuererhöhungen. Welche, sagte keiner der Regierungsvertreter. Allein die Wortwahl machte deutlich, daß an eine Mineralöl- und Mehrwertsteuererhöhung gedacht ist. Für FDP-Chef Lambsdorff war die Bundestagsdebatte ein Canossa-Gang. Die Alternative zwischen weiterer Verschuldung und Steuererhöhungen sei ihm die „Wahl zwischen Pest und Cholera“. Er wählte die Cholera.
Im Mittelpunkt der vierstündigen Debatte standen die Vorwürfe der Opposition, die Regierung habe die katastrophale Situation verkannt und alle Warnungen in den Wind geschlagen. Lambsdorff bestritt Irrtümer nicht, wehrte sich aber gegen den Vorwurf der Täuschung. Gleichzeitig zählte der FDP-Chef bei der Zahl von drei Millionen Arbeitslosen souverän auch die „Kurzarbeiter Null“ mit, was Ende letzten Jahres noch als unverantwortliche Schwarzmalerei galt. Minister Waigel gab sich derweil analytisch: Für die gegenwärtigen Haushaltsdefizite und Finanzprobleme seien die unfähigen Ost-Verwaltungen, der zu langsame Subventionsabbau, überhöhte Verwaltungsausgaben und zu umfangreiche Investitionsvorhaben der öffentlichen Haushalte verantwortlich. Mehr helfen aber müßten vor allem die alten Bundesländer.
SPD-Fraktionsvize Thierse fand deutliche Worte für die Darstellung der Koalition. Er könne über die „kleinlauten Eingeständnisse, man habe sich verschätzt“, angesichts der seit einem Jahr vorhandenen Warnungen „nur noch zornig werden“. Er warnte davor, daß die gegenwärtige Angst der Menschen in Aggressionen umschlagen könnte. Steuererhöhungen seien zwar unumgänglich; diese müßten aber „sozial gerecht und ökologisch vernünftig“ sein, sagte Thierse, der der Bundesregierung die Unterstützung der SPD anbot. Die geplante Steuersenkung für Spitzenverdiener müsse dafür vom Tisch, sonst sei die SPD „nicht im gleichen Boot“. Mit ihrer Ergänzungsabgabe für Besserverdienende und einer Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Freiberufler konnte sich die SPD dennoch nicht durchsetzen.
Der Bremer Bürgermeister Wedemeier signalierte für die SPD-regierten Länder erstmalig die Bereitschaft zur Neuverteilung der Umsatzsteuer, die bisher nur die CDU- Länder befürworten. Zur Zeit erhalten die Ost-Länder allerdings nur 55 Prozent ihres Anteils, was ihnen 1991 einen Verlust von 5 Milliarden Mark beschert. Für die nächsten vier Jahre boten die Westländer darüber hinaus Finanzhilfen in Höhe von 15 Milliarden Mark an.
Werner Schulz (Grüne/Bündnis 90) klagte die Regierung an, sie habe die Problemdimension „sträflich unterschätzt und falsch angefaßt“. Gegen den Rat von Fachleuten habe sie der DDR-Wirtschaft einem „brutalen Anpassungsschock ausgesetzt“, dessen „vernichtende Wirkung absehbar war“. Nach der gewaltlosen Revolution herrsche nun die „nackte ökonomische Gewalt“. Würden die Probleme nicht gelöst, werde die „Spaltung Deutschlands tiefer sein als vor dem Fall der Mauer“, warnte Schulz. Er forderte eine Ergänzungsabgabe für Besserverdienende, eine Solidarabgabe aus nicht investierten Unternehmensgewinnen und die Besteuerung der Zinserträge.
Die PDS klagte in der Debatte die Bundesregierung an, für den Golfkrieg zu klotzen, für die neuen Länder nicht. Am Golf werde mit den Geldern die Infrastruktur mit „Bombenterror und Akten des Völkermords“ zerstört, die es in der ehemaligen DDR aufzubauen gelte.
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