piwik no script img

Mit 110 Anzeigen ist das Maß ziemlich voll

Es wird geschlagen, gestochen und gesprüht/ Als Tatwerkzeuge feststehende Messer, Schreckschußpistole, Reizgas  ■ Von Irina Grabowski

Frankfurt/Oder (taz) — Seit August 1990 terrorisiert eine Clique von 30 Jugendlichen im Alter von 13 bis 18 Jahren die Stadt Franfurt/Oder. Nach Diebstählen und Einbrüchen in Kaufhallen und Gaststätten schreckten sie auch nicht vor Erpressungen und Überfällen mit Körperverletzung zurück. „Dabei wird nicht mehr nur geschlagen und getreten, sondern gestochen und gesprüht“, verweist Kommissariatsleiter Wolfgang Knauth auf die Brutalität, mit der die Jugendlichen vorgehen. Als Tatwerkzeuge haben sie feststehende Messer, Schreckschußpistole, Reizgas dabei.

Der Polizei sind die Täter lückenlos bekannt. Meist konnten sie kurz nach der Straftat zugeführt werden. Doch weil sie als nicht strafmündig galten, mußten sie nach der Vernehmung immer wieder nach Hause geschickt werden. Die Staatsanwaltschaft hob die Hände. Noch lief die Fragebogenaktion des Justizministeriums, und niemand wußte, ob er auf seinem Stuhl bleiben würde. Außerdem ist man im Umgang mit dem neuen Jugendgerichtsgesetz noch sehr vorsichtig. Das empfiehlt noch, bevor ein Haftbefehl ausgeführt wird, eine ganze Palette anderer Sanktionen — etwa Ermahnungen oder Verwarnungen — durchzuspielen. Gesetzt wird auf die erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens. Unabhängig von der Schwere der Tat geht der Jugendstaatsanwalt davon aus, daß sich das bei jugendlichen Straftätern noch „verwächst“. Doch für Komissar Weiß, der in Frankfurt die Vernehmungen leitete, ist mit 110 Anzeigen das Maß langsam voll: „Es wird zum Sport.“ In der Clique würde jeder für seine Straftaten „gefeiert“.

Jetzt aber ist es für fünf Jugendliche Ernst geworden: Der Staatsanwalt hat der Einweisung in die Untersuchungshaft zugestimmt. Als Ersten traf es Stefan H., 15 Jahre. Für seine Kumpel war er der Spezialist im Schlösserknacken. Schmal in den Schultern, mit einer blonden Locke auf dem rasierten Kopf sieht man ihm nicht an, daß er nach 20 Einbrüchen und Diebstählen zum Schluß noch einen jungen Mann beraubt und krankenhausreif geschlagen hat. Der tut ihm schon leid, aber „Randale fetzt“. Abgesehen hatte es Stefan vor allem auf Geld und modische Sachen. Mit 180 Mark „Lehrlingsrente“ im Monat sei er nicht ausgekommen und seine Mutter habe ihm nichts dazugegeben.

Stefan sieht sich als Mitläufer. Er war erst „auf links“. Als er zur Gruppe stieß, die sich als „rechts“ definiert, sei er umgepolt worden. Politisch verfestigt seien die Jugendlichen nach Meinung von Kommissar Weiß nicht, auch wenn sie „Heil Hitler“ brüllen und sich entsprechend kleiden. Die Äußerungen von Stefan bestätigen das: „Ich bin für Konfrontation. Erst bin ich zu den Linken, weil die weniger waren, und habe die Rechten gestürmt. Dann waren die Linken was mehr, da bin ich eben zu den Rechten.“

Bei fünf oder sechs Jugendlichen hat es die Polizei mit „Verbrecherdynastien“ zu tun. Aber die meisten in der Gruppe — auch Stefan — kommen aus sogenanntem geordnetem Elternhaus. Die Eltern zeigen Bereitschaft, ihre Kinder aus der Bande herauszulösen. „Die meisten können ihre Kinder gar nicht mehr beeinflussen“, schätzt Kommissar Weiß ein.

Stefans Mutter will gar keinen Einfluß auf ihren Sohn haben. Er sei schon immer unerzogen gewesen und habe eine große Klappe gehabt. Ihre einzige Sorge ist, daß er die ganze Familie mit „in den Dreck“ ziehen könnte. Auf seinen Brief aus dem Knast hat sie nicht geantwortet und damit jeglichen Kontakt abgebrochen.

Stefan sieht die Schuld bei seiner Mutter: „Sie hätte mich anders erziehen müssen.“ Eigentlich seien ihm seine Eltern „scheißegal“, aber er will wieder zurück und endlich einen „Schlußstrich“ ziehen. Nach drei Wochen Einzelhaft demonstriert er Katzenjammer. „Zweckverhalten“ nennt das U-Haftleiter Ruth. Stefan hat in seiner Zelle alles kurz und klein geschlagen. Platzangst oder die schiefe Logik, damit schneller rauszukommen — der Gefängnispsychologe beschäftigt sich mit ihm. U-Haftleiter Ruth sieht in Stefan einen neuen „Stammkunden“ heranwachsen. Wo denn solle der „Kleine“, wie er ihn nennt, Halt finden.

Die Gruppe löst sich langsam auf. Der „harte Kern“ sitzt ein. Einige Jugendliche haben, als sie merkten, daß die Polizei aufräumt, Frankfurt verlassen. Die am Rande mitliefen, versuchen in ein normales Leben zurückzufinden. Kommissar Weiß fühlt sich nicht wie ein Sieger: „ Die Jungs suchen Kontakte. Hätte man eher mit ihnen gesprochen und wären schwere Straftaten rechtzeitig mit Sanktionen geahndet worden, hätte es diese Entwicklung nie gegeben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen