In der Staatskarosse „nur Passagiere 3. Klasse“

Biedenkopf: Leere Kassen und sozialer Notstand sind nicht nur eine Frage der Finanzen/ Bündnis 90/Grüne: Demokratie ist „ein scheues Reh im Freistaat“/ Bilanz nach 100 Tagen: Biedenkopf rechnet in Bonn zusammen, was zusammengehört  ■ Von Detlef Krell

Dresden (taz) — Der Pleitegeier sitzt im Portemonnaie der deutschen Einheit. In seiner Regierungserklärung nach 106 Tagen Amtszeit nahm Sachsens Premier Kurt Biedenkopf noch einmal Anlauf, der inzwischen zum trockenen Bankbeleg verkommenen „nationalen Aufgabe“ etwas Pathos abzugewinnen: „Jeder Tag, der keine Lösungen bringt, vermindert die vorhandene Solidarität der Menschen im Westen und enttäuscht die zu recht hohe Erwartungshaltung der Menschen im Osten.“

Die Forcierung der westdeutschen Wirtschaft führe nicht nur zu einem Ausbluten des ostdeutschen Arbeitsmarktes und einer Verschärfung der Wohnraumsituation im Westen, sondern zu einer stetig sinkenden Investitionsbereitschaft in den neuen Bundesländern. In diesem Jahr sei mit einer Arbeitslosenquote von 30 bis 40 Prozent zu rechnen.

Mit dem einhelligen Votum des Landtages hatte Biedenkopf in Bonn zusammengerechnet, was zusammengehört, und es ist wohl die entscheidende Gewißheit für die weitere Arbeit der sächsischen Regierung, daß „gleichwertige Lebensverhältnisse“ und damit die „Vollendung der Einheit Deutschlands sehr wohl notwendige Voraussetzung für den politischen, sozialen Erfolg der Bundesregierung“ sind. Alle Erwartungen des sächsischen Premiers richten sich nun auf die gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz am 28.Februar in Bonn.

Die 100-Tage-Bilanz der Regierung Biedenkopf

Zur 100-Tage-Bilanz der Regierung zählte der Premier erste Schritte beim Aufbau der Landesverwaltung, den Beginn von Investitionen als Folge regionaler Fördermittel, auch große Investitionen wie die von VW. Selbst eine „Verbesserung der Zusammenarbeit mit der Treuhand“ erwähnte Biedenkopf. Er freue sich „über jede Gaststätte, die neu entsteht, und über jeden Handwerksbetrieb, der neu aufmacht oder die Kraft aufbringt, den Betrieb fortzuführen, jeden Kaufmannsladen, jede Bäckerei und Metzgerei“ und sieht daraus „ein neues Wirtschaftswunder“ wachsen. Für den Umbau der „Industriegesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft“ sei die Arbeitnehmerschaft aber besser vorzubereiten.

Biedenkopfs Standardbeispiel ist das „bisher in Deutschland einmalige“ Umschulungs- und Fortbildungsprogramm bei Pentacon, wo 4.000 Beschäftigte des liquidierten Kameraherstellers für „neue berufliche Aufgaben“ geschult werden.

Der Landeschef holt gegen Bonn aus

Schließlich holte Biedenkopf noch einmal gen Bonn aus und verlangte: Vorfahrt für Investitionen. Das gelte für Grundstücke wie für Unternehmen. Es könne nicht länger geduldet werden, daß das Land ewig mit dem Finanzministerium über ehemals landeseigenen Grundbesitz verhandeln muß.

Auch werde die Regelung offener Vermögensfragen dann zum Hemmnis, wenn sie sich vorrangig an den Interessen ehemaliger Eigentümer und nicht an schnellen Investitionen orientiert. Die Bedingungen für Investoren zu verbessern und neue Arbeitsplätze zu schaffen, darin sehe die sächsische Staatsregierung in diesem Jahr eine ihrer wichtigsten Aufgaben.

Kein Kommentar zum am Golf tobenden Krieg

Kein Wort, keinen Gedanken verwandte Kurt Biedenkopf in seiner Regierungserklärung auf den seit mehr als vier Wochen am Golf tobenden Krieg. Statt dessen verbreitete er sich weitläufig über das „Erbe des SED-Regimes“, und der gelbgeränderte CDU-Block inszenierte lautstarken Beifall. „Kein politisches System hat den Menschen, die Natur so ausgebeutet wie das SED-Regime“, befand der Premier, und im sächsischen Landtag, weitab von den Flächenbombardements auf das biblische Mesopotamien, dröhnten rhythmisch die christdemokratischen Tischreihen. Offenbar mühelos gingen sowohl dem Premier als auch dem CDU-Fraktionschef die Floskel vom „blühenden Land Sachsen“ über die Lippen, das nun gedeihen werde.

Die Opposition und der Krieg

Es blieb der Opposition vorbehalten, an die weltpolitische Dimension der Einheit Deutschlands zu erinnern. Karl-Heinz Kunckel (SPD) richtete die Forderung, „den Krieg so schnell wie möglich zu beenden“ an die irakische Führung und hielt auf deutscher Seite bloß eine Verschärfung der Gesetze über den Export von Kriegsgerät für nötig.

Die Fraktion Bündnis 90/Grüne brachte einen Antrag in die Debatte, alle wirtschaftsfördernden Schritte gegenüber Firmen zu unterlassen, die in begründetem Verdacht stehen, das Embargo gegen den Irak zu unterlaufen oder das Regime mit Waffen beliefert zu haben. In einer von der CDU-Fraktion modifizierten Fassung wurde dieser Antrag angenommen. Schärfere Kontrolle von Rüstungsexporten, neues Kriegswaffenkontrollgesetz und härtere Strafen für Waffenexporteure, die gegen dieses Gesetz verstoßen, werden darin gefordert; Firmen, die das Embargo unterlaufen haben, erhalten in Sachsen keine Wirtschaftsförderung. Eine Beschränkung der Rüstungsproduktion, Rüstungsstopp gar, blieben ausgeklammert. Klaus Bartl (Linke Liste/PDS) rechnete vor, daß Sachsen, obwohl vor dem finanziellen Kollaps, mit 90 Millionen DM beim Golfkrieg dabei ist.

Wie politische Altlasten entsorgt werden

Doch die drittstärkste Fraktion im sächsischen Landtag hatte vielmehr damit zu tun, sich eifrig die SED- Jacke anzuziehen, die ihr in der Regierungserklärung zugeworfen wurde. Als der Fraktionschef erklärte, die gegenwärtige Regierungspolitik sei davon geprägt, „einzuholen, was man im überhasteten Anschluß selber mit verbrochen hat“, verließen Teile des CDU- Blocks den Saal, andere riefen nach dem Staatsanwalt. Auf „Feindbilder und Schulmeisterei“ in der Regierungserklärung wußte Bartl nur Parolen zu erwidern, die Chance einer kritischen, wachen Opposition hat sich seine Fraktion wieder einmal vergeben.

Die Sozis finden sich im Regierungsprogramm

Dagegen wollten die Sozialdemokraten sogar einige ihrer Ideen, namentlich zur regionalen Wirtschaftsstruktur und zur Steuerfrage, im Regierungsprogramm wiedererkannt haben. Kunckel würdigte Biedenkopfs Engagement, das Land aus dem Finanzdesaster herauszuholen und forderte, Investitionshemmnisse schnellstens abzubauen. Der Bund solle auf Steuersenkungen grundsätzlich verzichten und statt dessen in der Rüstung sparen. Auf die zentrale Treuhand sei endlich zu verzichten, auf Länderebene wäre eine „zeitlich befristete Subventionsstrategie für mittelfristig sanierungsfähige Betriebe“ von Nutzen, ebenso wie — eine bekannte sozialdemokratische Forderung — staatlich organisierte Arbeitsmarktpolitik.

Die Demokratie ist ein scheues Reh im Freistaat

Als „Warten auf ein Wunder“ beschrieb Cornelia Matzke (Bündnis 90/Grüne) die Regierungserklärung. Der Zusammenbruch der Wirtschaft sei nicht nur das Ergebnis von 40 Jahren SED-Herrschaft, sondern auch die Folge einer verfehlten Politik bei der Vereinigung. Wenn die Arbeitslosigkeit dramatisch ansteigt, die Arbeit zugleich auf der Straße liegt, dann „ist etwas am politischen Konzept falsch. Dafür tragen Sie Verantwortung“, wandte sich die Sprecherin an die Fraktion der Regierungspartei. Angesichts der Strukturkrise im Osten bestehe Bündnis 90/Grüne auf einem Förderplan, wie er einst auch im Saarland und in NRW erfolgreich angewendet wurde; mit der VW-Investition laufe gegenwärtig genau das Gegenteil, wenn 3.000 Arbeitsplätze entstehen und 65.000 verschwinden. Eine Veränderung in der Struktur der Treuhand stehe noch aus, klagte sie ein Versprechen aus Biedenkopfs Antrittsrede ein. Inzwischen seien die Kommunen enteignet worden und müßten zurückkaufen, was ihnen selber gehört. „Demokratie ist überhaupt ein scheues Reh im Freistaat“, wo auch die Betroffenen von „Abwicklungs“-Beschlüssen erst aus der Presse erfahren, wo für Ärzte freie Niederlassungen favorisiert werden, ohne daß die Wettbewerbsunfähigkeit der Polikliniken erwiesen sei und wo der Bau von Autobahnen begonnen werde, ohne vorher den Landtag zu fragen.

Freie Demokraten für „fairen Wettbewerb“

Günter Kröber (FDP) bot für die Politik im Freistaat einen „fairen Wettbewerb“ an, bei dem es nicht um „mehrheitskomplexe“, sondern „nur um die besten politischen Lösungen für unsere Menschen gehen kann“. Er schlug vor, „solange die Privatisierung nicht greift“, also solange die versprochenen Investoren ausbleiben, „in landeseigenen Betrieben Arbeitsplätze zu schaffen“.

Auf kürzerem Weg zu sichtbaren Erfolgen, deren Ausbleiben selbstredend nur aus der sozialistischen Mißwirtschaft rühre, möchte auch CDU- Fraktionschef Herbert Gohliasch gelangen. Da aber ein Wirtschaftskonzept für den Freistaat bisher nur in den Forderungskatalogen der Opposition steht, rettete er sich in Kampagnen: Mehr sächsische Produkte mit sächischem Gütesiegel in sächsischen Geschäften wären nicht schlecht, auch ein Ökologisches Jahr und eine Grüne Lotterie. Denn „wir alle“ seien nach der sächsischen Postkutschenordnung „Passagiere dritter Klasse“. Die müssen, wenn es steil wird, aussteigen und kräftig in die Speichen greifen. Um die Staatskarosse aus dem Dreck zu ziehen.